Der schwäbische Romantiker Wilhelm Hauff, der bereits kurz vor seinem 25. Geburtstag an Typhus verstarb, ist uns heute vor allem durch seine Märchen wie „Kalif Storch“, „Zwerg Nase“ oder „Der kleine Muck“ in Erinnerung geblieben. Sein Roman „Lichtenstein“, einer der ersten historischen Romane in deutscher Sprache, wird dagegen kaum noch gelesen. „Das Wirtshaus im Spessart“ fand ich in jungen Jahren in einem Sammelband, der drei Klassiker der Abenteuerliteratur vereinte und sprachlich für Kinder bzw. Jugendliche aufbereitet war, neben Hauff waren das noch „Robinson Crusoe“ und „Der Wildtöter“ von James F. Cooper. Dass es sich meist um gekürzte Fassungen handelte, fiel mir kaum auf, sie waren auf jeden Fall spannend und wunderbar als Schmöker geeignet.

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„Das Wirtshaus im Spessart“ ist eigentlich nur eine Rahmenerzählung für verschiedene von Hauff verfasste Märchen und Erzählungen. Beim „Decamerone“ flüchten sich Leute vor der Pest aufs Land und erzählen sich was, damit die Zeit herumgeht; bei Hauff haben die eingebetteten Geschichten eine ähnliche Funktion.
Vor vielen Jahren, als im Spessart die Wege noch schlecht und nicht so häufig als jetzt befahren waren, zogen zwei junge Burschen durch diesen Wald. Der eine mochte achtzehn Jahre alt sein und war ein Zirkelschmied, der andere, ein Goldarbeiter, konnte nach seinem Aussehen kaum sechzehn Jahre haben und tat wohl jetzt eben seine erste Reise in die Welt. Der Abend war schon heraufgekommen, und die Schatten der riesengroßen Fichten und Buchen verfinsterten den schmalen Weg, auf dem die beiden wanderten.
Im Wald soll es Räuber geben und auch das Wirtshaus, in dem die beiden für die Nacht ihr Quartier nehmen, scheint es ihnen nicht ganz geheuer zu sein: Wer sagt denn, dass sie nicht in ihren Betten überfallen werden, vielleicht stecken die Gastleute mit den Räubern unter einer Decke? So beschließen Felix der Goldarbeiter, der Zirkelschmied, sowie ein Student und ein Fuhrmann, auf die sie im Wirtshaus treffen, nicht schlafen zu gehen, sondern zu wachen und mit Erzählen zu verhindern, dass ihnen die Augen zufallen. Der Zirkelschmied erklärt sich bereit, anzufangen und bringt „Die Sage vom Hirschgulden“ zum Besten, in der es um die Fehde dreier zerstrittener Brüder geht, die dazu führte, dass einer von ihnen seine Burg und die dazugehörige Stadt Balingen um einen Gulden an Württemberg verkaufte, nur um den anderen beiden das erhoffte Erbe vorzuenthalten.
Während es allmählich später wird, hat die Wirtin es auffallend eilig, die Gäste in ihren Betten zu wissen, auch werden mehrere verdächtige Gesellen im Haus gesichtet. Grund genug also, weiter wachsam zu bleiben und mit der nächsten Erzählung zu beginnen – keine geringere als „Das kalte Herz“, möglicherweise Hauffs bis heute bekanntestes Märchen, nicht zuletzt durch die bekannte Verfilmung von 1950. Die Geschichte vom armen Köhler Peter Munk, der beim Holländer-Michel sein Herz gegen einen steinernen Klumpen eintauscht, um reich und gefühllos zu werden, vergisst wohl niemand, der sie einmal gelesen oder gesehen hat. Im Wirtshaus wird sie vom Studenten zum Besten gegeben, der allerdings durch die Ankunft einer vornehmen Kutsche mit zwei Damen jäh unterbrochen wird. Anscheinend warten die Räuber gar nicht auf die „normalen“ Gäste, sondern wurden informiert, dass eine Gräfin hier übernachten würde. Die Neuangekommenen werden von der Gefahr unterrichtet und beschließen, nun gemeinsam zu wachen und abzuwarten. In der Zwischenzeit erzählt ein Jäger, der die beiden Damen begleitet, die Geschichte von „Saids Schicksal“, ein Märchen im orientalischen Stil ähnlich wie „Kalif Storch“ oder „Der kleine Muck“, die allesamt in Hauffs „Märchen-Almanachen“ veröffentlicht wurden. Als letztes folgt noch eine Gespenstergeschichte, die mir immer ausnehmend gut gefallen hat: „Die Höhle von Steenfoll“ (die in Schottland spielt, deren Protagonisten aber die nicht gerade britischen Namen Kaspar Strumpf und Wilm Falke tragen) über ein gesunkenes Schiff, deren Schätze angeblich durch finstere Riten zu bergen sind, was zwei Fischern zum Verhängnis wird.

Quelle: programm.ard.de
Was habe ich mich damals vor ihm gefürchtet: Erwin Geschonneck als Holländer-Michel im Defa-Film „Das kalte Herz“
Als die Räuber schließlich den Überfall wagen, greift der Goldschmied Felix in der Not zu einer List und schlüpft in die Kleider der Gräfin, um sich an ihrer Stelle entführen zu lassen – denn darauf hat man es abgesehen, es soll der Herr Graf um eine große Summe Geld erpresst werden. In Begleitung des Jägers und des Studenten gelingt die Täuschung und während die Gefangenen im Versteck auf ihre Befreiung warten, kommt auch noch die Gelegenheit, die Geschichte vom kalten Herz zu Ende zu erzählen: Peter, durch den Holländer-Michel reich, aber skrupellos geworden, hat geheiratet, macht seiner Frau jedoch das Leben zur Hölle und erlaubt ihr nicht, Almosen an Arme zu geben, bis es zur Katastrophe kommt:
„Und sogar meinen Ehrenwein gießest du aus an Bettelleute, und meinen Mundbecher gibst du an die Lippen der Straßenläufer? Da nimm deinen Lohn!“ Frau Lisbeth stürzte zu seinen Füßen und bat um Verzeihung, aber das steinerne Herz kannte kein Mitleid, er drehte die Peitsche um, die er in der Hand hielt, und schlug sie mit dem Handgriff von Ebenholz so heftig vor die schöne Stirne, daß sie leblos dem alten Manne in die Arme sank. Als er dies sah, war es doch, als reute ihn die Tat auf der Stelle; er bückte sich herab, zu schauen, ob noch Leben in ihr sei, aber das Männlein sprach mit wohlbekannter Stimme: „Gib dir keine Mühe, Kohlen-Peter; es war die schönste und lieblichste Blume im Schwarzwald, aber du hast sie zertreten, und nie mehr wird sie wieder blühen.“
Doch wer die Geschichte kennt, weiß, dass sie am Ende doch noch gut ausgeht, ebenso „Das Wirtshaus im Spessart“: Der Räuberhauptmann wandelt sich vom Saulus zum Paulus und flieht zusammen mit den Gefangenen, sodass einer Rückkehr zum Schloss der Gräfin in Aschaffenburg nichts mehr im Wege steht. Außerdem stellt sich heraus, dass diese dem jungen Felix nicht nur durch seine mutige Tat sehr verbunden ist …
In den 50ern haben sie daraus noch eine Filmkomödie mit Lilo Pulver gemacht, die sehr erfolgreich war, aber inhaltlich nur wenig mit Hauff zu tun hat. Dieser steht mit seinem Schaffen oft im Schatten der (bekannteren) Gebrüder Grimm oder des (fantastisch-düstereren) E. T. A. Hoffmann, hat aber mit seinen Märchen einen bleibenden Beitrag zu unserem Erzählgut geliefert, auch wenn vielen der Name des Urhebers kaum noch etwas sagt.
