Quantcast
Channel: Meine Leselisten
Viewing all 160 articles
Browse latest View live

Dezember 2005: Helen Fielding – Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück

$
0
0

Den Film mochte ich überhaupt nicht, ich sah ihn das erste Mal zu Ostern 2004 (wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht), natürlich wegen Hugh Grant, den ich damals sehr mochte. Das er im Film ein ziemlich A… loch spielt, verbesserte meine Meinung darüber nicht unbedingt. Außerdem hatte ich mir die Heldin immer anders vorgestellt als Renée Zellweger, die allerdings als Amerikanerin den Londoner Single Bridget Jones sehr glaubhaft verkörpert – viele Frauen scheinen sich in ihren täglichen Kämpfen gegen Übergewicht, ihrem Schwanken zwischen Selbstvertrauen und heulendem Elend à la „Ich bin so fett und hässlich“ sowie der ewigen Suche nach dem „Mr Right“ wiederzufinden, sonst wären sowohl Buch als auch Verfilmung (und die nachfolgenden Teile) nicht ein solcher Erfolg geworden.

Fielding+Schokolade-zum-Fr%FChst%FCck-Das-Tagebuch-der-Bridget-Jones-Roman

Quelle: booklooker.de

Tatsächlich las ich das “Buch zum Film” mit Renée Zellweger auf dem Cover, doch gefällt mir diese ältere Ausgabe besser

Trotzdem war sie in meinem Kopf immer die dunkelhaarige, recht attraktive Dame, die mich von den Taschenbuchcovern von „Schokolade zum Frühstück“ und dessen Nachfolger „Am Rande des Wahnsinns“ anblickte. Letzteren las ich zuerst und fand ihn wunderbar, manchmal schreiend komisch, auf jeden Fall höchst unterhaltsam. Die Filmfassung hält sich bei Teil 2 ja leider kaum noch an die Vorlage, was zumindest in der einen köstlichen Episode auch schwierig geworden wäre, als Bridget ihren Schwarm Colin Firth trifft (das Allheilmittel für sie und ihre Freundinnen ist eine Szene aus der BBC-Version von “Pride and Prejudice“, in der er als Mr Darcy ins Wasser springt und dann im nassen Hemd durch die Landschaft stapft – ich sehe den Reiz daran nicht, aber er machte damals wohl etliche Zuschauerinnen sehr nervös) und sich dann mutmaßlich auf ihn stürzt, mit peinlichen Folgen. Während der „Bridget Jones“-Film in einem zugegebenermaßen sehr intelligenten Dreh gleich ihren potenziellen Mann für Leben, Mark Darcy (man beachte den Namen), mit Firth besetzte … Jedenfalls las ich „Schokolade zum Frühstück“ erst zwei Jahre nach „Am Ende des Wahnsinns“ und war erneut begeistert, der Humor scheint im Buch einfach besser zu funktionieren als auf dem Bildschirm.

In ihrem Tagebuch schreibt die Anfang-dreißigjährige Bridget, Lektorin in einem Verlag, über den ganz normalen Wahnsinn ihres Lebens. Das sich eigentlich wenig von dem anderer Großstadt-Singles unterscheidet: Sie fasst zu Silvester mal wieder einige gute Vorsätze: so will sie abnehmen, mit Rauchen aufhören und endlich ihr Singledasein beenden. Denn schließlich liegt ihre überfürsorgliche Mutter ihr schon lange in den Ohren, wann es denn so weit sei mit Hochzeit und Enkeln. Und sie tut ihr Bestes, um Abhilfe zu schaffen, indem sie ihrer Tochter regelmäßig vermeintlich aussichtsreiche Kandidaten vorstellt: wie etwa den Anwalt Mark Darcy, den Bridget aber auf den ersten Blick nicht ausstehen kann, nicht zuletzt weil er bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in einem hässlichen Weihnachtspulli (typische englische Feiertagsbekleidung) rumläuft. Diese und andere Begebenheiten hält sie in ihrem Tagebuch fest, neben der täglich konsumierten Menge von Zigaretten, Kalorien und Alkoholeinheiten und diversen philosphischen Betrachtungen über die Unzulänglichkeiten von Diäten, Männern, Beziehungen etc. Die sie auch liebend gern und ausgiebig an weingetränkten Abenden mit Tom, dem typischen schwulen Kumpel, und ihren zwei besten Freundinnen Jude und Shazzer diskutiert. Ein Thema ist dabei nicht zuletzt Bridgets Chef Daniel, in den sie heftig verschossen ist und der zu ihrer Freude auf ihr Flirten nicht nur mit anzüglichen Bemerkungen eingeht. Seinen Ruf als notorischen Frauenheld ignoriert sie zunächst und lässt sich auf eine Affäre mit ihm ein, in der Hoffnung auf mehr. Dass das nur zu weiterem Herzschmerz führt, dürfte klar sein, ebenso, dass Mark sich am Ende als bessere Wahl herausstellt. Doch bis dahin gibt es etliche peinliche Momente, betrunkene Abende und Einträgen gespickt mit bildhaften Ausdrücken wie „Uäh“ oder so schönen Sätzen wie „Aba müdde jetz“.

2 Uhr nachts. Oh, warum bin ich nur so unattraktiv? Warum? Selbst Männer, die Hummelsocken tragen, finden mich schrecklich. Ich hasse das neue Jahr. Ich hasse alle. Außer Daniel Cleaver. Zum Glück habe ich noch von Weihnachten eine riesengroße Tafel Cadbury’s Vollmilchschokolade auf meinem Toilettentisch liegen und dazu ein witziges Minifläschchen Gin Tonic. Werde mir beides einverleiben und eine Kippe rauchen.

Schokolade zum Frühstück“ ist ein Frauenroman wie er im Buche steht, mit allen guten und schlechten Seiten, die mancher mit diesem Genre verbinden mag (die Frage, die mir dabei durch den Kopf geht: Gibt es eigentlich auch „Männerromane“, also Bücher, die thematisch explizit auf Männer als Leser abzielen, mal abgesehen von Genren wie Sci-Fi oder Western, die mutmaßlich häufiger von Männern gelesen werden?): Natürlich kreisen auch die Gedanken von alleinstehenden Damen nicht ständig nur um ihr Gewicht, das andere Geschlecht und zu viel Alkoholgenuss – so oberflächlich ist hoffentlich keiner und in so absurde Situationen wie Bridget geraten sicher auch nur die wenigsten. Es ist eine harmlose, vergnügliche Lektüre für zwischendurch, die schnell süchtig machen kann, doch von der man bei einer Überdosis ebensolche Bauchschmerzen wie von einer zu großen Portion Schokolade bekommt.



September 2009: Steve Tesich – Ein letzter Sommer

$
0
0

Der Titel und Inhalt dieses Buchs passte recht gut zu meinem Sommer 2009: Mein Leben stand damals durch das bevorstehende Auslandssemester vor einem Umbruch, die Zeit in England stellte einen Entwicklungsschritt dar, nachdem ich nicht mehr dieselbe war. “Ein letzter Sommer” war das letzte Buch, das ich vor meiner Abreise las, und der letzte Satz darin hätte nicht treffender sein können:

“Und so ging ich in die Welt hinaus.”

Der Roman wird von Daniel Price erzählt, einem 18-Jährigen Jugendlichen, der gerade seinen Highschool-Abschluss gemacht hat und sich jetzt im Laufe des Sommers entscheiden muss, was er mit seinem Leben anfangen will. Wir schreiben das Jahr 1960 und selbst im trostlosen East Chicago macht sich eine Atmosphäre der Rebellion breit: Soll man den gleichen Weg wie die Eltern einschlagen oder aus der Industriestadt ausbrechen? Erwartungen enttäuschen, wie Danny am Anfang der Geschichte bei einem absichtlich verlorenen Ringkampf, oder sich konform geben? Natürlich sind da jede Menge Erwartungen und Neugier bei ihm und seinen zwei besten Freunden Billy und Larry, die ganz klassisch zwischen Kindheit und Erwachsenenalter stehen.

Wir alle drei, denke ich, hatten das Gefühl, die nächsten Jobs, die wir fanden, würden für den Rest unseres Lebens unser Beruf bleiben. Das machte uns ängstlich und unentschlossen. Wenigstens brauchten wir für den Augenblick kein Geld. Wir hatten unsere bescheidenen Ersparnisse. Wir hatten weder Mädchen, noch Autos, und so war selbst das wenige, was wir hatten, mehr als genug. Früher waren wir ins Kino gegangen, aber das Herannahen des Sommers machte uns irgendwie zu unruhig, um ganze Filme auszusitzen, also gingen wir einfach nicht mehr hin. Wir warteten darauf, dass eine Veränderung mit uns vorging. Mit allen anderen ging nach dem Schulabschluss eine Veränderung vor sich. Mit uns bestimmt auch bald.

Ihre Wege beginnen sich zu trennen, als sie jeder allmählich zu einer Entscheidung kommen: Billy wählt einen sicheren Job und die Bequemlichkeit, während Larry gegen seinen spießigen Eltern aufbegehrt und schließlich bei Nacht und Nebel verschwindet. Daniel ychließlich lernt Rachel kennen, die erst vor kurzem mit ihrem Vater in seine Gegend gezogen ist, und in die er sich heftig verliebt. Gleichzeitig muss er mit der Krebserkrankung seines zynischen Vaters klarkommen, der sein Leben als gescheitert betrachtet und den Sohn mit aller Macht in seinen eigenen Sumpf des Unglücks ziehen will. Besonders für Frauen hat er kein gutes Wort übrig, hat ihn doch seine eigene betrogen, wenn auch nur mit einem Blick. Daniels schöne Mutter stammt aus Montenegro, was sie zu einer exotischen Figur macht, doch sie passt nicht wirklich nach East Chicago und in diesem Sommer verschärft sich der schwelende Konflikt zwischen den Eltern. Und vielleicht wäre es ganz ratsam, sich Rachel mit Vorsicht zu nähern, gibt sie sich doch sehr rätselhaft, schwankt zwischen Nähe und Abwehr und scheint ein Geheimnis zu hüten. Doch macht sie das nur noch faszinierender und anziehender für Daniel, für den diese Liebe sein ganzes Leben verändert, ebenso wie der Todeskampf seines Vaters.

Quelle: amazon.de

Quelle: amazon.de

Es ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte und doch so viel mehr als das. Dem serbo-amerikanischen Autor Steve Tesich, der 1979 einen Oscar für das Drehbuch zu „Breaking Away“ erhielt und 1996 viel zu früh verstarb („Ein letzter Sommer“ erschien im Original 1982, kam jedoch in Deutschland erst 2005 heraus), gelingt es meisterhaft, dem Leser die Spannungen und Kämpfe dieses komplizierten Alters vor Augen zu führen, wenn alles in der Schwebe ist, wenn man begierig darauf ist, Erfahrungen zu sammeln – Daniel schreibt Tagebucheinträge für die Menschen um ihn herum, als wären seine eigenen Erlebnisse nicht interessant genug –, weil man nicht weiß, dass diese immer auch mit Schmerz verbunden sind. Die Sehnsucht von Danny nach Rachel, die ihm am Ende enttäuschen wird und deren Lebensumstände ganz anders sind als er es zunächst glaubt; seine Abneigung gegenüber dem Vater, den die Krankheit nicht nur körperlich, sondern auch psychisch verändert und noch mehr zum Tyrannen werden lässt; schließlich sein Zaudern vor der Zukunft – all dies schildert Tesich ohne Pathos oder Schwulst, sondern mit viel Humor und Glaubhaftigkeit. Jeder, der einmal jung gewesen ist und an diesem Punkt stand, wo alles möglich, aber nichts sicher ist, kann sich ein Stück weit mit Daniel und seinen Freunden identifizieren. Ein unvergessliches, ganz besonderes Buch über die Qualen der ersten Liebe und über das Abschiednehmen, das doch nie ein Ende ist. Wie ich damals nach der Lektüre erfahren sollte.


Carlos Ruiz Zafón – Der Schatten des Windes

$
0
0

Mit „Der Schatten des Windes“ gelang dem Katalanen Ruiz Zafón ein sensationeller Erfolg, der sich 10 Millionen Mal verkaufte und monatelang ganz oben in den weltweiten Bestsellerlisten zu finden war. Als ich ihn am Jahresende 2006 las, kannte ihn wahrscheinlich schon jeder: Immerhin war er bereits 2004 auf Platz 16 der beliebtesten Bücher der Deutschen gewählt worden. Ob das Ergebnis heute ähnlich aussehen würde, wage ich zu bezweifeln. Es mag vielleicht nicht nur mir so gegangen sein, dass ich den Roman während und kurz nach der Lektüre für grandios hielt – ich schrieb hinterher eine begeisterte Rezension für die Schülerzeitung darüber –, mich aber jetzt kaum noch an den Inhalt erinnere oder was genau mir so gefallen hat. Er ist auf jeden Fall ein guter Schmöker, der das Abenteuer des Lesens feiert, und man lernt einiges über die Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Im Nachhinein bleibt aber wenig Substanzielles, vielleicht so ähnlich wie ich es bei „Nachtzug nach Lissabon“ empfand, ein zur etwa gleichen Zeit ebenso gehyptes Buch.

Quelle: fischerverlage.de

In „Der Schatten des Windes“ treffen die Lebensgeschichten des jungen Daniel Sempere und des Schriftstellers Julián Carax im Barcelona der Nachkriegszeit aufeinander. Die Handlung ist nicht chronologisch aufgebaut und recht verschachtelt, mit mehreren Ebenen. So wird Daniel, Sohn eines Buchhändlers, als Kind von seinem Vater zum legendär-geheimen „Friedhof der vergessenen Bücher“ geführt, wo er sich genau ein Buch aussuchen darf. Seine Wahl fällt, und jetzt kommt schon der erste Dreh, auf „Der Schatten des Windes“, geschrieben von Julián Carax. Über diesen möchte Daniel gern mehr erfahren, stößt aber zunächst auf Granit: anscheinend ist sein Exemplar das einzig noch existierende, alle anderen sollen von einem unheimlichen Fremden verbrannt worden sein. Bei seinen Nachforschungen wird er vom ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter und nunmehrigen Obdachlosen Fermín Romero de Torres unterstützt. Der überraschend elegante und gebildete Fermín wird nicht nur ein enger Freund Daniels, er findet auch Anstellung in der Buchhandlung Sempere und Söhne. Zur gleichen Zeit lernt Daniel die blinde Clara Barceló kennen, die ihren Vater in den Wirren des Bürgerkriegs verloren hat und der er sein Buch schenkt. Sie ist seine erste Liebe, doch wird nichts daraus.

Es vergehen einige Jahre, Daniel wird älter, doch kann er das Buch und den rätselhaft verschwundenen Autor nicht vergessen. Mit der Hilfe von Beatriz, der Schwester von Daniels Freund Tomás, kommt er schließlich einer verbotenen Liebe auf die Spur, die denkbar tragisch endet und dazu führt, dass Carax voller Selbsthass nicht nur sich selbst aus der Welt bringen will, sondern auch versucht, sämtliche seiner Bücher zu verbrennen, wo immer er ihrer habhaft wird. Aber er lebt noch, und Daniel findet ihn zufällig, in einer verlassenen Villa (der „Nebelburg“), die früher der Familie von Juliáns Geliebten gehörte und wohin sich Daniel mit Beatriz, mit der er mittlerweile eine Affäre begonnen hat, flüchtet. Doch nicht nur er ist auf den Spuren des totgeglaubten Schriftstellers: Der brutale Polizeioffizier Fumero, der im Bürgerkrieg etliche Verbrechen auf sich geladen hat, möchte ebenfalls noch eine offene Rechnung begleichen …

Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu dem wir früher oder später zurückkehren werden, egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken, wie viel wir lernen oder vergessen. Für mich werden diese verzauberten Seiten immer diejenigen sein, die ich auf den Gängen des Friedhofs der Vergessenen Bücher fand.

Wie gesagt, im Buch selbst ist die Handlung längst nicht nicht so geradlinig, es gibt viele Kapitel mit Rückblenden auf die Jugend Julián Carax’, seine Schulzeit und leidenschaftliche Liebe zu Penélope, ihre misslungene gemeinsame Flucht nach Paris und sein verzweifeltes Leben zurück in Barcelona. Diese Stadt spielt ebenfalls keine unbedeutende Rolle im Roman, sie ist wie ein eigener Charakter und nicht umsonst gibt es bereits etliche Zafón-thematische Rundgänge durch die katalanische Hauptstadt.

Trotz der nicht einfachen Thematik und der vielen traurig-trüben Szenen (es scheint immerzu Winter zu sein, kalt und nass und dunkel), wird man unwillkürlich in den Bann der Geschichte gezogen, die einen nicht mehr loslässt. Doch wie gesagt, rückblickend scheint nicht viel davon übrig zu bleiben. Zwei weitere Romane von Ruiz Zafón, „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ drehen sich ebenfalls um den Friedhof der vergessenen Bücher, die Familie Sempere und Fermín Romero de Torres. Ersteren las ich noch mit einiger Begeisterung, der andere enttäuschte und langweilte mich ziemlich. Möglicherweise lag es daran, dass ich allmählich Mühe hatte, all die Charaktere und ihre Schicksale auseinander zu halten. Es gibt tatsächliche und irreführende Parallelen zwischen ihnen, die Figuren haben einen großen Fatalismus und ein Gefühl, das alles vorherbestimmt ist, als könnte es nicht anders geschehen. Erst am Schluss von „Der Schatten des Windes“ wird der teuflische Kreislauf durchbrochen und es gibt ein Happy End – oder vielleicht auch nicht, wie „Der Gefangene des Himmels“ andeutet, aber wie dem auch sein, Zafóns geplantes viertes Buch der Reihe werde ich trotzdem nicht mehr lesen. Jegliches hat seine Zeit, nicht zuletzt die Bücher unseres Lebens, und dieses passte zum Jahresende 2006. Später nicht mehr. Der sprachliche Stil ist allerdings zugegebenermaßen poetisch und lädt zum Zitieren ein, und die folgende Szene ist die einzige, die mir nach all der Zeit im Gedächtnis geblieben ist.

Ich wartete, bis Bea im Haus verschwunden war, und ging dann leichten Schrittes davon, immer wieder zurückschauend. Langsam beschlich mich die absurde Gewissheit, dass alles möglich war, und ich hatte das Gefühl, selbst diese menschenleeren Straßen und der feindliche Wind rochen nach Hoffnung. Als ich zur Plaza der Cataluña kam, sah ich, dass sich in der Mitte ein Taubenschwarm versammelt hatte. Sie ließen keinen Handbreit Boden frei, ein Schleier weißer Flügel, die sich lautlos wiegten. Zuerst wollte ich um sie herumgehen, aber genau in diesem Moment sah ich, dass sich der Schwarm vor mir auftat, ohne aufzufliegen. Ich ging langsam weiter und sah, dass die Tauben hinter mir wieder zusammenrückten. Im Zentrum des Platzes angekommen, hörte ich die Glocken der Kathedrale Mitternacht schlagen. Ich blieb einen Augenblick stehen, mitten in einem Meer silberner Vögel: Das war der merkwürdigste und wunderbarste Tag meines Lebens gewesen.


Oktober 2014: Robert Graves – I, Claudius/Claudius the God

$
0
0

Als Angehöriger einer altrömischen Adelsfamilie hatte man meist keine hohe Lebenserwartung: Fiel man nicht in der Schlacht oder einer Krankheit zum Opfer, wurde man nicht selten von den eigenen Verwandten um die Ecke gebracht. Fressen oder gefressen werden, das war hier die Frage , und wer kein Meister im Intrigenspinnen war, hatte bald verloren. Es sei denn, er war so augenscheinlich harmlos und trottelig wie der “arme Onkel Claudius”: Dieser stotternde, naive und dickliche Kerl konnte doch keinen Schaden anrichten und war der absolut unwahrscheinlichste Kandidat für den Titel des römischen Kaisers. Und doch setzte gerade er sich durch und regierte fast 14 Jahre lang bis zu seiner (unvermeidlichen) Ermordung im Jahr 54 n. Chr.

Quelle: amazon.co.uk

“I, Claudius” ist die meisterhafte fiktive Autobiografie eines Mannes, der sich dem Leser wie folgt vorstellt:

I, Tiberius Claudius Drusus Nero Germanicus This-that-and-the-other (for I shall not trouble you yet with all my titles) who was once, and not so long ago either, known to my friends and relatives and associates as “Claudius the Idiot”, or “That Claudius”, or “Claudius the Stammerer”, or “Clau-Clau-Claudius” or at best as “Poor Uncle Claudius”, am now about to write this strange history of my life; starting from my earliest childhood and continuing year by year until I reach the fateful point of change where, some eight years ago, at the age of fifty-one, I suddenly found myself caught in what I may call the “golden predicament” from which I have never since become disentangled.

Von früher Kindheit an mit einer Gehbehinderung und einem Sprachfehler ausgestattet, wird er von seiner ganzen Familie als minderwertig angesehen und sträflich unterschätzt, dabei ist er sehr intelligent und wissbegierig und gilt mittlerweile als beachtlicher Historiker, der u. a. 20 Bände zu den Etruskern und eine Geschichte über Augustus’ Regierung verfasste (die zu seinem Kummer kaum Beachtung fanden). Beim Schreiben kommt sein Stottern nicht zum Tragen, er kann sich frei und verständlich ausdrücken und dies bewegt ihn auch dazu, seine Memoiren für die Nachwelt zu hinterlassen, gemäß der Prophezeiung einer Wahrsagerin, die nicht nur seine Thronbesteigung vorhersieht, sondern auch, dass er in 1900 Jahren endlich klar sprechen wird; nämlich beim angeblichen Auffinden der Schriftstücke.

Claudius nimmt uns mit in das römische Reich während der Regierungszeit von Augustus, Tiberius und Caligula. 10 v. Chr. wird er in eine der einflussreichsten und mächtigsten Familien hineingeboren: Seine Großmutter Livia ist mit dem Kaiser Augustus verheiratet, nachdem sie sich von Claudius’ Großvater scheiden ließ. Ihr Machthunger kennt keine Grenzen und ihr Weg zur heimlichen tatsächlichen Herrscherin ist mit Leichen gepflastert, darunter die ihrer Gatten und ihres eigenen Sohns, Claudius’ Vater. Ihr Enkel, der nach dem Tod des Vaters von Livia erzogen wird, bewundert und fürchtet sie gleichermaßen und muss miterleben, wie verschiedene potenzielle Nachfolger Augustus’ ein allzu frühes Ende finden – umso mehr nimmt er sich den Rat seines Vorbilds Asinius Pollio zu Herzen und stellt sich absichtlich dümmer als er ist. Die einzigen Familienmitglieder, denen er sich nahe fühlt, sind sein Bruder Germanicus und sein Cousin Postumus. Doch durch eine Intrige wird Postumus ins Exil auf eine kleine Insel verbannt, und dem allseits beliebten und erfolgreichen Feldherrn Germanicus wird seine Popularität zum Verhängnis, als er mutmaßlich Opfer von Gift und “Hexenzauber” wird. Wie sich zeigt, war Livia für ihren Urenkel Caligula, Germanicus’ Sohn, eine gute Lehrerin – nur kommt in seinem Fall noch Größenwahn und Geisteskrankheit hinzu. Als er nach dem Tod seines Großonkels Tiberius auf den Thron des römischen Kaisers kommt, wird das Überleben ein reines Glücksspiel (Caudius wird als eine Art Hofnarr betrachtet, doch gerät auch er in einige brenzlige Situationen) und Tausende sterben unschuldig, während das Land wegen seiner kostspieligen, unsinnigen Launen in Schulden versinkt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Ermordung dieses Tyrannen geplant und ausgeführt wird. Bei dem anschließenden Chaos im Palast finden die Soldaten Claudius, der sich in Todesangst zu verstecken versucht und erklären ihn prompt zum neuen Kaiser. Widerstrebend nimmt er, der eigentlich den Idealen der Republik hinterher trauert, an, um sich und seine schwangere Frau Messalina vor der Wut der Prätorianer zu schützen.

I was thinking, “So, I’m Emperor, am I? What nonsense! But at least I’ll be able to make people read my books now.”

Damit endet “I, Claudius”; die Regierungszeit des neu ernannten Herrschers wird in “Claudius the God” beschrieben.

Quelle: amazon.co.uk

Nun muss er sich der Mammutaufgabe widmen, den Staatshaushalt zu sanieren und diverse, lang vernachlässigte Projekte in Angriff nehmen: Zunächst statuiert er ein Exempel und bestraft Caligulas Mörder (auch wenn sie ihn zum Kaiser gemacht haben), dann lässt er den Bau des Hafens von Ostia beginnen, um die Lebensmittelversorgung von Rom zu sichern, kümmert sich um die Instandsetzung und Verbesserung des Aquäduktsystems, verbessert das Rechtssystem, schlägt Aufstände nieder, bemüht sich, die ewig rebellischen Germanen zur Ruhe zu bringen und erobert endlich die britische Insel. Doch wird er von seiner bekanntermaßen promiskuitive Gattin Messalina hintergangen, die Claudius’ Gutgläubigkeit ausnutzt, um Feinde aus dem Weg zu räumen, und die ihr eigenes Machtsystem aufbaut, für das ihr Mann lange blind ist. In mutmaßlicher Folge ihrer Verurteilung und Hinrichtung wird seine Herrschaft wesentlich blutiger, und er heiratet ein letztes Mal, nämlich seine Nichte Agrippinilla, obwohl er sie verachtet und im Grunde weiß, dass sie alles tun würde, damit ihr Sohn Nero der nächste Kaiser wird. Was am Ende auch eintrifft.

Quelle: diese ausgezeichnete Rezension unter 101 Books – http://101books.net/2011/02/09/book-8-i-claudius/
Ja, das ist der weit verzweigte Stammbaum der Julier-Claudier. Ja, die Personen kommen alle in Graves’ Romanen vor.

Für diese beiden Bücher sollte man ein gewisses Geschichtsinteresse aufbringen und einige Vorkenntnisse schaden auch nichts, zudem ist ein Stammbaum am Buchende sehr hilfreich, um bei all den oft ähnlich klingenden Namen nicht durcheinander zu kommen. Doch man wird mit einer unglaublich spannenden Lektüre belohnt über einen Außenseiter, den keiner für voll nimmt, bis er sich plötzlich ganz oben wiederfindet. Was er dann mit diesem unverhofften Amt anfängt, ist auch ein Lehrstück darin, wie schnell gute Absichten durch die alltäglichen Machtkämpfe im Haifischbecken zerrieben werden und erhoffte Änderungen nicht oder nur langsam erfolgen. Wie schnell die Beliebtheit eines Staatsmanns, der sich für unantastbar hält, sinken kann:

“But godhead is, after all, a matter of fact, not a matter of opinion: if a man in generally worshipped as a god then he is a god. And if a god ceases to be worshipped he is nothing.”

Robert Graves, der sich zuerst als Chronist seiner Erlebnisse im Ersten Weltkrieg einen Namen machte (die er in Gedichten und einer Biografie verarbeitete), muss einen unglaublichen Rechercheaufwand für diese zwei historischen Bücher betrieben haben, die jederzeit als völlig authentisch gelten könnten, müsste man nicht davon ausgehen, dass kein römischer Kaiser so offen und unverblümt über sich und seine Mitmenschen geschrieben haben würde. Er stützt sich dabei auf die Historien von Tacitus, Plutarch und Sueton, wobei er gleichzeitig versucht, deren schiefes oder voreingenommenes Bild dieses oft vergessenen oder als “Idiot” verschrienen Kaisers gerade zu rücken. Dabei ist es unvermeidlich, dass er seinerseits bestimmte Ereignisse umschreibt oder auslässt bzw. einige Charaktere in ein bestimmtes Licht rücken will – am Ende ist es eben ein Roman, keine absolut getreue, trockene Biografie (“Es ist mehr als Wahrheit: Es ist Dichtung!”).

Doch im Bereich der historischen Romane spielen beide Werke in der ersten Liga (und es spielt dank des ohnehin “antiken” Themas keine Rolle, dass “I, Claudius” bereits 1934 und der Nachfolgeband ein Jahr später erschien) und sind mittlerweile Klassiker, die natürlich auch schon verfilmt wurden. Wer wie ich beim Lesen die perfekte Kombination aus Bildung und Unterhaltung sucht, darf diese zwei Werke nicht verpassen.

Quelle: bleon1.wordpress.com
Claudius als Jupiter, wie er heute in den Vatikanischen Museen herumsteht


Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

$
0
0

Im Winter 2007 wurde ich durch die Lektüre von Oscar Wildes “Bildnis des Dorian Gray” plötzlich vom “L’art pour l’art”-Fieber gepackt. Das Konzept der “Kunst um der Kunst willen” schien mir völlig logisch – Kunst sollte keinen anderen “Nutzen” haben, als den Betrachter durch ihre Schönheit zu berauschen, denn wie ich des Öfteren feststellte, tut es der Seele gut, etwas wirklich Schönes zu sehen, sei es ein Mensch, ein Sonnenuntergang oder ein Gemälde von Raffael oder Botticelli. Da wir von unserem Französischlehrer dazu angehalten wurden, kleine Essays zu schreiben, um unsere Sprachfähigkeiten zu verbessern und ihm eine Möglichkeit zur Benotung zu geben, setzte ich mich prompt mit diesem Thema in schriftlicher Form auseinander. Ich war einfach hin und weg von der bohemienhaften Dekadenz, die diese Bewegung umgab, und die sich in “Dorian Gray” manifestiert, vor allem in seinem Vorwort:

The artist is the creator of beautiful things. To reveal art and conceal the artist is art’s aim. The critic is he who can translate into another manner or a new material his impression of beautiful things. […]

Those who find beautiful meanings in beautiful things are the cultivated. For these there is hope. They are the elect to whom beautiful things mean only beauty.

There is no such thing as a moral or an immoral book. Books are well written, or badly written. That is all. […]

We can forgive a man for making a useful thing as long as he does not admire it. The only excuse for making a useless thing is that one admires it intensely.

All art is quite useless.

Ich verliebte mich unsterblich in Wildes Stil, in seine geistreichen Epigramme, seine gewitzte Ironie, seine ästhetische Weltanschauung, mit der ich mich unbedingt identifizieren konnte. Dabei übersieht man leicht, dass “Das Bildnis des Dorian Gray” zwar auch eine Hymne an Schönheit, ewige Jugend und Dekadenz ist, sie am Ende jedoch als hohl und verbrecherisch entlarvt.

oscar-wilde_das-bildnis-des-dorian-gray

Quelle: http://1001geschichte.blogspot.co.uk

Dieses Buchcover zeigt Franz Liszt … wahrscheinlich ohne Hintergedanken, nur als Beispiel für einen schönen jungen Mann

 Lord Henry Wotton, den Wilde quasi als Sprachrohr seiner eigenen Ansichten gestaltet, trifft im Atelier des Malers Basil Hallward auf dessen Muse, den jungen Adonis Dorian Gray, und ist sofort von ihm eingenommen – die homoerotische Anziehung zwischen den zwei Männern (der jüngere mit engelsgleicher Anmut und Neugier, der ältere mit Geist, Geschmack und Weltgewandtheit gesegnet) ist unübersehbar. Dorian ist noch gänzlich unverdorben und sich seiner Attraktivität nicht bewusst; Lord Henry öffnet ihm dafür die Augen und verdeutlicht ihm außerdem, welch Verlust das Ende der Jugend ist. Dadurch weckt er nicht nur Dorians Narzissmus, sondern auch den Wunsch, niemals zu altern:

»Wie traurig ist das!« sagte Dorian Gray leise und wandte die Augen nicht von seinem eigenen Bildnis. »Wie traurig ist das! Ich werde alt und gräßlich und widerwärtig werden, aber dieses Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie älter sein als dieser Junitag heute. . . Wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild immer älter würde! Dafür – dafür – dafür gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, was ich nicht dafür gäbe! Ich gäbe meine Seele dafür!«

Er verliebt sich wenig später scheinbar unsterblich in die junge Schauspielerin Sybil Vane, die durch seine Liebe zum ersten Mal erkennt, wie verlogen die ganze Theaterwelt ist, deren Emotionen sie bisher für echt hielt. Doch ihre Erkenntnis verdirbt ihre Schauspielkunst, was wiederum Dorians Liebe zu ihr abrupt enden lässt. Dass er ihr damit das Herz bricht, wird ihm erst völlig bewusst, als am nächsten Morgen sein Blick auf das Selbstporträt in seinem Zimmer fällt – der gemalte Mund hat einen grausamen Zug enthalten. Sein Wunsch ist wahr geworden: Statt in seinem Gesicht zeichnen sich alle seine Sünden nun auf dem Gemälde ab. Doch die logische Folge ist nicht nur, dass sich Dorian sämtlichen Ausschweifungen hingeben kann, ohne dass man es seinem Äußeren jemals ansehen würde – er bleibt immer der engelsgleiche Jüngling –, sondern auch, dass kein Mensch jemals wieder das Porträt erblicken darf, das immer hässlichere Züge annimmt und das er auf seinem Dachboden versteckt. So vergehen einige Jahre, in denen sich allmählich furchtbare Gerüchte um Dorian verbreiten, ohne dass ihm etwas nachgewiesen werden könnte. Als eines Abends Basil Hallward zu ihm kommt, um ihn damit zu konfrontieren, überkommt den jungen Mann plötzlich ein wildes Verlangen, dem alten Freund seine Seele bloßzulegen – er führt ihn zu dem Porträt:

Ein Ausruf des Entsetzens kam von den Lippen des Malers, als er in der schlechten Beleuchtung das häßliche Gesicht auf der Leinwand sah, das ihn angrinste. Es lag etwas in dem Ausdruck, das ihn mit Widerwillen und Ekel erfüllte. Großer Gott! es war Dorian Grays eigenes Gesicht, auf das er blickte! Das Gräßliche, was es auch war, hatte die wunderbare Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem dünnen Haar und etwas Rot auf dem sinnlichen Mund. Die stumpfen Augen hatten etwas von ihrem lieblichen Blau bewahrt, die edeln, geschwungenen Linien um die feingebauten Nüstern und der plastische Hals waren noch nicht ganz geschwunden.

Doch diese Art der Beichte weckt in Dorian auch großen Hass auf den Schöpfer des Bilds, dem er die Schuld an allem gibt und der jetzt um sein Geheimnis weiß – kurzerhand ersticht er ihn mit einem Messer. Und erpresst einen Chemiker, den er einst auf Abwege geführt hat, ihm bei der Beseitigung der Leiche zu helfen. Seine Schuldgefühle unterdrückt er mit Opium und glaubt, dass nichts und niemand ihm etwas anhaben könnte. Aber seine Nemesis ist ihm bereits auf den Fersen und irgendwann holt ihn die Vergangenheit heim …

1727635iemolodohsjc4_rki1wpm4kxrhah3v6l_sx_mwge2kfqkxpuimk5zedcpgarclisrsogzpo21dbk1hoxasm8ia

Quelle: cinema.de

Helmut Berger als Dorian in der Verfilmung von 1970

Wie alle Werke von Oscar Wilde ist auch “Dorian Gray” randvoll mit brillanten Zitaten; wie ich einmal in einem Vortrag zum Autor bemerkte, sollte man bei der Lektüre stets einen Bleistift zur Hand haben, um Passagen zu unterstreichen oder abzuschreiben. Doch steckt so viel mehr in diesem, seinem einzigen Roman als nur zitierwürdige Sätze wie “Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben.” oder “Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, halten sie Gericht über sie; manchmal verzeihen sie ihnen.” oder “Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.” oder …

Der geradezu faustische Pakt, den Dorian schließt – mit wem, weiß er selbst nicht – verführt ihn dazu, die Inspirationen aus einem hochgradig dekadenten Buch, das ihm Lord Henry schenkt (der Titel wird nicht genannt, doch wird meist Joris-Karl Huysmans‘ “À rebours” als Wildes Vorbild dafür angenommen) in die Tat umzusetzen, mit fatalen Folgen. Wilde zeigt uns, dass es zwar nicht schadet, ein Ästhet und Hedonist zu sein, doch wenn diese den Weg zu einer Verachtung von Mitgefühl und Moral ebnen, wird es gefährlich. Ebenso gilt die Binsenweisheit, dass ein übergroßer Narzissmus noch niemandem gut getan hat, doch scheint er manchmal fast unausweichlich, wenn man wie Dorian den Einflüsterungen eines Verehrers erliegt. Sein Wunsch, den Grund dieser Verehrung nicht zu verlieren, ist nur allzu verständlich (und lässt sich heutzutage bei vielen ehemals sehr attraktiven Film- und Musikstars beobachten, die krampfhaft versuchen, auf künstliche Weise ihre Jugend zurückzuholen – das Altern muss für schöne Menschen noch schwerer sein als es ohnehin ist), entschuldigt seine Taten aber trotzdem nicht. Vielleicht ist das ein Grund für die Faszination, die dieses Buch ausübt: Es predigt besonders im ersten Teil Dekadenz und Hedonismus und lässt die Hauptfigur dann im zweiten Teil daran zugrunde gehen, nachdem sie sich als skrupelloser Mörder und rundheraus gesagt als A*loch erwiesen hat.

oscar-wilde

Quelle: lettersofnote.com

Oscar und “Bosie” Alfred Douglas

Fast könnte man glauben, Wilde hätte als Vorbilder für Dorian and Lord Henry seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas und sich selbst genommen – nur schrieb er den Roman bereits 1890, ein Jahr bevor er mit “Bosie” bekannt wurde. So sollte er einmal mehr recht behalten mit seinem Zitat “Life imitates Art far more than Art imitates Life.” Die Kunst als Spiegel des Lebens – in “Das Bildnis des Dorian Gray” wird dies auf geradezu unheimliche Weise real. Die Vorwürfe zum Erscheinungszeitpunkt des Romans, es sei unmoralisch, hatte Wilde ohnehin ad absurdum geführt – und außerdem kann man, wie er in seinem Vorwort feststellte, ein Buch nicht “moralisch” oder “unmoralisch” nennen. Ein Buch voller Belehrungen und einwandfrei handelnder Charaktere kann uns abgrundtief langweilen und ist dadurch wertlos. Besser, man verführt den Leser auf so wunderbar subtile Weise wie er es tut … und schafft damit ein unvergessliches Werk, das am Ende so viel mehr bewirkt und das man lieben muss, ein Leben lang.


Dezember 2008: Yann Martel – Schiffbruch mit Tiger

$
0
0

Als ich im Februar 2013 Ang Lees “Life of Pi” im Kino sah, war ich mehr als begeistert: Endlich einmal ein 3D-Film, bei dem die Technik wirklich eine Bereicherung des Seherlebnisses bot, und man nicht das Gefühl hatte, hier sollte “3D” nur zur Berechtigung dienen, ein paar Euro mehr an der Kinokasse zu verlangen. Unvergesslich bleibt mir zum Beispiel das wie durch ein übernatürliches blaues Leuchten erhellte Meer, aus dem schließlich ein gewaltiger Wal steigt. Oh, und der Schreckensmoment, als Richard Parker unter der Bootsplane hervorspringt und dem Zuschauer geradezu ins Gesicht, sitzt mir heute noch in den Knochen. Literaturverfilmungen können manchmal ganz schöne Enttäuschung sein, doch in diesem Fall erwies sich der Film der Vorlage als absolut ebenbürtig.

u1_978-3-596-50956-0

Quelle: fischerverlage.de
Die Platzverteilung im Boot ist jedenfalls nicht gerecht

Das Buch hatte ich über vier Jahre vorher gelesen. Zum ersten Mal hörte ich von dem (besonders im Deutschen) etwas merkwürdigen Titel im Radio, und später fand ich den Roman dann in meiner Stadtbibliothek. Und noch ein wenig später in der Bibliothek meiner Hochschule, dort aber auf Englisch – ich ärgerte mich gewaltig, dass ich es da schon gelesen hatte, und nicht im Original. Immerhin gibt der deutsche Titel einen klareren Hinweis auf den Inhalt: Ja, es geht um einen Schiffbruch, bei dem der einzige überlebende Mensch das Rettungsboot mit einem Tiger teilen muss.

Der Mensch heißt Piscine Molitor Patel, ein gebürtiger Inder, der sich selbst den Spitznamen “Pi” gibt, damit andere seinen Namen nicht verhunzen können. Schon als Jugendlicher setzt er sich mit den Weltreligionen auseinander und beschließt, nachdem er bereits praktizierender Hindu ist, auch den Geboten von Islam und Christentum zu folgen. Auf diese Weise, so meint er, kann er Gott am meisten lieben und aus den Blickwinkeln der unterschiedlichen Religionen betrachten. Ungefähr zur gleichen Zeit trifft sein Vater, Leiter des Zoos von Pondicherry, die Entscheidung, mit seiner Familie nach Kanada auszuwandern, unter Mitnahme der meisten Zootiere. Dies erweist sich als folgenschwer, als das Schiff, auf dem die Tiere und die Familie reisen, während der Überfahrt in einen Sturm gerät und mitten auf dem Pazifik untergeht. Pi gelingt es, in ein Rettungsboot zu klettern – doch nicht nur er, auch eine Hyäne, ein Orang-Utan und ein Zebra suchen dort Zuflucht. Seine Verzweiflung wird nicht geringer, als er zu begreifen beginnt, dass seine gesamte Familie und alle Besatzungsmitglieder bei dem Untergang ertrunken sind. Überdies folgt die Hyäne ihrem natürlichen Instinkt und tötet erst das (durch einen Sturz verletzte) Zebra und dann das Orang-Utan-Weibchen. Und als könnte es nicht noch schlimmer kommen, springt plötzlich ein bengalischer Tiger unter einer Plane hervor, wo er sich die ganze Zeit versteckt gehalten hatte. Pi weiß, dass der Tiger Richard Parker heißt (sein eigentlicher Name wurde durch einen bürokratischen Fehler mit dem des Jägers, der ihn gefangen hat, verwechselt), bereits zuvor hatte er ihn immer als Beispiel angesehen für die Wechselhaftigkeit von Namen – schließlich hat Pi seinen ja auch ein Stück weit geändert. Jedenfalls muss er jetzt sein Boot mit einem hungrigen Tiger teilen, der sich zwar zunächst auf die Hyäne stürzt, die aber sicher nicht ewig vorhalten wird. Deshalb macht sich Pi zunächst daran, ein Floß zu bauen, das er mit dem Boot verbindet, um eine physische Trennung von der Großkatze zu schaffen. Als nächstes versucht er, dem Tiger sein Review klar zu machen und ihn, so gut es geht, mithilfe von Nahrung und einer Pfeife ein wenig abzurichten. Es gelingt ihm in der Tat so gut, dass sie beide eine halbwegs friedliche Koexistenz im Rettungsboot führen können, auch wenn Pi immer auf der Hut sein muss, keinen Fehler zu machen. Die Beschäftigung mit dem Tiger hilft ihm auch, sich nicht einfach zu ergeben angesichts seiner ausweglosen scheinenden Situation.

I had to stop hoping so much that a ship would rescue me. I should not count on outside help. Survival had to start with me. In my experience, a castaway’s worst mistake is to hope too much and to do too little. Survival starts by paying attention to what is close at hand and immediate. To look out with idle hope is tantamount to dreaming one’s life away.

Er wird unwillkürlich ein anderer, z. B. muss der als Vegetarier erzogene Junge jetzt mitleidlos Fische und Schildkröten töten, um sein und des Tigers Überleben zu sichern. Er erlebt eine Phase des Deliriums, in der er sich einbildet, Richard Parker könnte sprechen und würde einen blinden Franzosen töten, der ebenfalls als Schiffbrüchiger auf dem Meer umher treibt. Und er findet eine Insel, die ganz aus Algen besteht und von Erdmännchen bewohnt wird. Doch das vermeintliche Paradies entpuppt sich als tödliche Falle, denn die Algen sind bei Nacht fleischfressend …

Am Ende schafft es Pi tatsächlich, mit seinem Boot die Küste Mexikos zu erreichen. Sobald der Tiger Land sieht, springt er von Bord und verschwindet im Dschungel, was Pi fast das Herz bricht, war das Raubtier doch für lange Zeit sein einziger Gefährte.

I’ve never forgotten him. Dare I say I miss him? I do. I miss him. I still see him in my dreams. They are nightmares mostly, but nightmares tinged with love. Such is the strangeness of the human heart. I still cannot understand how he could abandon me so unceremoniously, without any sort of goodbye, without looking back even once. The pain is like an axe that chops my heart.

Den mexikanischen Beamten, die ihn ihm Krankenhaus besuchen, bietet er dann zwei Versionen seiner Geschichte an: die, die der Leser kennt, und eine andere, realistischere, aber auch grausamere. Und an dieser Stelle kommt die Philosophie ins Spiel: Was wollen bzw. können wir glauben? Handelt es sich am Ende nur um eine Parabel, so wie auch die Religionen Geschichten erzählen, die für etwas anderes stehen? Aber macht eine schöne Geschichte am Ende das Leben nicht so viel interessanter? Schließlich müssen das auch die Beamten zugeben. Und genau so verhält es sich laut Pi auch mit Gott.

I can well imagine an athiest’s last words: “White, white! L-L-Love! My God!” – and the deathbed leap of faith. Whereas the agnostic, if he stays true to his reasonable self, if he stays beholden to dry, yeastless factuality, might try to explain the warm light bathing him by saying “Possibly a f-f-failing oxygenation of the b-b-brain,” and, to the very end, lack imagination and miss the better story

Zwar glaube ich nicht, dass “Schiffbruch mit Tiger” Menschen zum Glauben bekehren kann – wer felsenfest nur an wissenschaftlich beweisbare Fakten glaubt, wird Pis “poetischere” Variante seiner Erlebnisse als Versuch ansehen, alles Traumatische mit einem Mantel zu bedecken, um leichter damit leben zu können. Es wird eher Leser ansprechen, die hin und wieder mit ihrem Glauben hadern, die Zweifler, die nach einem rationalen Beweis suchen, während sie doch tief im Inneren wissen, dass es einen solchen nicht geben kann. Übrigens hat schon Blaise Pascal von einer Wette gesprochen, die der Glauben sei – man riskiert nichts, wenn man glaubt und sei insgesamt besser dran, weil er Trost im Diesseits bietet und vielleicht sogar das ewige Seelenheil nach dem Tod, sollte es wirklich einen Gott geben. Man verliert auf jeden Fall nichts. So ähnlich sieht es auch Pi.

Abgesehen von den religiösen und philosophischen Themen des Romans handelt es sich auch um eine unglaublich spannende Geschichte, die ich geradezu verschlang. Auch lernt man einiges, z. B. hätte ich nie gedacht, was so ein modernes Rettungsboot alles an Ausrüstung enthält – u. a. Auffangbehälter für Regenwasser oder Filter, um Meerwasser trinkbar zu machen, Raketen usw. – es dürfte im Normalfall also hoffentlich nicht zum Kannibalismus kommen, wie beim Untergang der Mignonette 1883, als sich die Überlebenden genötigt sahen, einen von ihnen als Proviant für die anderen zu bestimmen. Das Opfer hieß übrigens … Richard Parker.

lifeofpi-6

Quelle: http://www.hidefninja.com
Szenenbild aus dem Film


Dezember 2003: Astrid Lindgren – Das entschwundene Land

$
0
0

In meinen Augen hat kein Autor je das Geheimnis des Kindseins so wunderbar in Büchern zum Ausdruck gebracht wie Astrid Lindgren. Voraussetzung dafür war, dass sie selbst eine glückliche Kindheit erlebte, aus deren Erlebnissen sie für ihre Geschichten schöpfen konnte. Und von dieser Kindheit erzählt sie in “Das entschwundene Land”.

51o210lbhsl

Quelle: bookcrossing.com

Der Titel bezieht sich nicht nur auf die Jugend, in der man wie in einer eigenen Welt lebt, zu der man irgendwann den Schlüssel verliert (zumindest passiert das den meisten), sondern auch auf das ländliche Småland, in dem sie am 14. November 1907 auf dem Hof Näs ihrer Eltern geboren wurde. Als sie in den siebziger Jahren darüber schrieb, war vieles nur noch eine Erinnerung, die sie in Büchern wie “Michel aus Lönneberga” oder “Rasmus und der Landstreicher” festhielt: Die Welt der Großgrundbesitzer und einfachen Bauern, der Mägde und Knechte, der Katenbewohner und Armenhäusler. Die meisten Leute verdienten sich ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht und erlebten nur wenige Höhepunkte und Ablenkungen vom harten Alltag, wie Jahr- und Viehmärkten oder einen Festtagsschmaus. Die Kinder mussten selbstverständlich nach der Schule und in den Ferien auf dem Feld und im Haus mithelfen und waren ansonsten meist sich selbst überlassen, denn die Eltern waren viel zu sehr mit dem eigenen Tagewerk beschäftigt, um sich ständig darum zu sorgen, wo die lieben Kleinen denn jetzt gerade steckten und was sie taten. Das bedeutete aber nicht, dass sie verwahrlosten, denn der ganze Hof, ja das halbe Dorf war an der Kindererziehung beteiligt, die Größeren kümmerten sich um die Jüngeren, während die Mutter bei Bedarf liebevoll, aber auch konsequent eingriff. Astrid empfand ihr Leben auf Näs rückblickend stets als paradiesisch:

Gunnar, Astrid, Stina und Ingegerd, so hießen die Ericssonskinder auf Näs. Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit.

“Das entschwundene Land” ist außerdem eine Liebesgeschichte, der zwischen ihren Eltern Samuel August und Hanna (1999 wurde sie von den Hörern des schwedischen Radios zur “Liebesgeschichte des Jahrtausends” gewählt). Samuel August sah Hanna zum ersten Mal, als er erst 13 und sie gerade 9 Jahre alt war, während einer Schulprüfung, für die alle Kinder der Gegend zusammenkamen. Für den Bauernjungen war das Leben kein einfaches, denn er stammte aus ärmlichen Verhältnissen und musste sich nach der Schule bei seinem Onkel als Knecht verdingen. Das war schwer verdientes Brot und nur in den Wintermonaten fand er Zeit, seine Bildung in einer Volkshochschule zu vertiefen. Durch glückliche Umstände konnte sein Vater Näs pachten, den Samuel August später übernahm, doch bis er sich ein Herz fasste und um die Hand seiner geliebten Hanna anhielt, vergingen noch einige Jahre. Für ihn gab es keine andere Frau im Leben, sie war sein Ein und Alles, mit der er 60 Jahre lang verheiratet war. Die große Liebe zwischen den Eltern war sicher ein entscheidender Grund dafür, dass Astrid und ihre Geschwister ihre Kindheit als so harmonisch empfanden.

3fdfa69cc4

Quelle: awesomestories.com

Astrid Lindgren (3. v. l.) mit Eltern und Geschwistern

Der Leser erfährt auch, wie für die junge Astrid “Das grenzenloseste aller Abenteuer” begann, als sie ihre Liebe zum Geschichtenerzählen und zu Büchern entdeckte. Sie plädiert dafür, dieses Abenteuer jedem Kind zu ermöglichen, indem man ihm vorliest und erzählt. Außerdem plaudert sie im Kapitel “Wo kommen nur die Einfälle her?” ein wenig aus dem Nähkästchen und verrät, wie sie z. B. auf den Namen ihrer wohl beliebtesten Figur Pippi Langstrumpf gekommen ist – bzw. war es ihre Tochter Karin, die dieses höchst ungewöhnliche Mädchen zuerst in die Welt setzte und für die Astrid Geschichten erfand. Als sie dann im Winter 1944 notgedrungen das Bett hüten musste, begann sie mit dem Schreiben, was sie eigentlich nie vorgehabt hatte:

Schon in meiner Schulzeit erhoben sich warnende Stimmen: ‚Du wirst mal Schriftstellerin, wenn du groß bist.‘ […] Das entsetzte mich derart, dass ich einen förmlichen Beschluss fasste: Niemals würde ich ein Buch schreiben. […] ich hielt mich nicht für berufen, den Bücherstapel noch höher anwachsen zu lassen. Doch dann kam dieser Schnee, der die Straßen glitschig wie Schmierseife machte. Ich fiel hin, verstauchte mir den Fuß, musste liegen und hatte nichts zu tun. Was tut man da. Schreibt vielleicht ein Buch. Ich schrieb Pippi Langstrumpf.

Schließlich gibt sie augenzwinkernd in “Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuchautor” noch hilfreiche Ratschläge, wie man es mit der Schreiberei denn anstellen soll. Ihr Fazit: Lernen kann man es nicht, es muss in einem sein, aber so ist es ja im Grunde mit allen Künsten. Wobei manche bezweifeln würden, ob das Schreiben von Kinderbüchern denn eine solche ist, doch wer Lindgrens Bücher kennt, weiß, dass sie ein unglaubliches Talent gerade dafür hatte. Das Verfassen von “Erwachsenenbüchern” hat sie nie interessiert, “Das entschwundene Land” kommt dem vielleicht noch am nächsten. Es ist keine klassische Autobiografie, eher eine Sammlung von Erinnerungen und Ansichten, wie sie eine ältere Frau an die jüngere Generation zum Aufbewahren weitergeben möchte.

lindgren_nas

Quelle: soderhult.se

Astrid Lindgrens Elternhaus Näs, das man heute im Rahmen einer Führung besuchen kann: http://www.astridlindgrensnas.se/de/elternhaus

Einige Leser beklagen die Kürze des Buches (es hat gerade einmal 100 Seiten, die recht großzügig bedruckt sind), und dass sie insgesamt doch nur wenig Privates verrät. Dunkle Seiten, an denen ihr Leben nicht arm war, erwähnt sie nicht. Tatsächlich wurden bestimmte Dinge erst nach ihrem Tod 2002 wirklich publik, wie ihre Affäre mit einem älteren Mann, von dem sie mit 18 schwanger wurde, woraufhin sie ihren unehelichen Sohn nach Dänemark zu Pflegeeltern geben musste. Ihr Kindheitsidyll endete recht abrupt und sie hatte vermutlich immer ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Sohn in seinen ersten Jahren nicht bei sich haben konnte. Möglicherweise führte das zu einer Art Verklärung der eigenen Kinderzeit, in der sie noch sorglos und unbeschwert sein durfte. Mittlerweile liegt eine umfangreiche Biografie von Jens Andersen vor, der diesem und anderen, bisher wenig bekannten Aspekten ihres Lebens viel Platz einräumt. Wer sich ernsthaft für Astrid Lindgren interessiert, kommt darum nicht herum, sie wird auf jeden Fall in naher Zukunft auf meiner Leseliste erscheinen. Doch wer von der Autorin selbst erfahren möchte, wie sie zum Schreiben gekommen ist und woher sie ihre Inspirationen nahm, muss “Das entschwundene Land” lesen. Das sie literarisch ganz wunderbar dem Vergessen entreißt.


März 2006: Hanns-Josef Ortheil – Die große Liebe

$
0
0

Der Titel schreit geradezu “Kitsch”. Schließlich sind wir heutzutage alle furchtbar abgebrüht und zu zynisch, um an so etwas wie “Die große Liebe” zu glauben, oder? Doch tief im Inneren sehnt sich wohl jeder danach, selbst wenn er es sich nicht eingestehen mag.

41b12fftfol-_sx313_bo1204203200_

Quelle: amazon.de

Leider konnte ich nicht ermitteln, bei welchem Renaissancegemälde sich das Cover bediente

Ein solcher Ungläubiger ist Giovanni, Ich-Erzähler des Romans (und Deutscher, trotz des Namens), der sich aus beruflichen Gründen auf den Weg von München an die italienische Adriaküste begibt, um dort einen Film über die Gegend und vor allem das Meer zu drehen. Dabei lernt der Fernsehredakteur, der sich noch immer nicht ganz von einer kürzlich in die Brüche gegangenen Beziehung erholt hat, die Meeresbiologin Franca kennen, und wie im Film ist es für ihn Liebe auf den ersten Blick. Seine Gefühle bringen ihn einigermaßen aus der Fassung, denn er ist es gewohnt, mit Frauen zu flirten, sie zu verführen, doch lässt er sich am Ende nie ganz auf sie ein, seine Beziehungen bleiben stets an der Oberfläche. Er hat die Hoffnung auf Liebe begraben, seit ihm seine erste mit 17 das Herz brach … Aber Italien scheint ihm die Sinne zu öffnen, den Geist zu durchlüften durch all die neuen Eindrücke, das gute Essen und nicht zuletzt das Meer: Er verliebt sich zuallererst in das Land selbst.

Das Meer war sehr ruhig, die Wellen glitten ungebrochen an Land und legten sich wie feine Netze aus Schaum über den glatten aufschimmernden Sand. Ich breitete die Arme aus, wie zum Flug, so verharrte ich kurz, ohne Bewegung, ich war angekommen.

Es ist vermutlich einfacher, eine dramatische Geschichte über eine unglücklich endende Liebe zu schreiben als eine harmonische über eine glückliche, noch dazu, wenn es all die Schwulstklippen zu umschiffen gilt. Zwar geht es auch bei Ortheil nicht gänzlich konfliktfrei zu: Die Dottoressa hat bereits einen Verlobten, den sie in Kürze heiraten und dann mit ihm woanders hinziehen möchte. Doch als sie Giovanni trifft, ist sie viel eher bereit als er, einen Schnitt und den ersten Schritt zu machen und dann auch die Konsequenzen zu tragen, sich mit Haut und Haar auf ihn und eine neue Zukunft einzulassen. Er ist da viel zögerlicher, stellt seine eigenen Gefühle in Frage, prüft und analysiert sie und kommt doch nur zu dem gleichen Schluss wie Franca, was er dann auch gegenüber dem Verlobten ausdrückt:

Sie werden es pathetisch finden, aber in meinen Augen ist es Die große Liebe ohne Herzschmerz und Eifersucht, ohne Intrigen und Vorbehalte, ohne jeden Kummer und Rücksichten. Wir befinden uns in einem Roman, Franca und ich – wir schreiben gleichsam an einem Roman, es ist ein beinahe klassischer Liebesroman. Zwei Menschen erkennen, dass sie füreinander geschaffen sind, das ist es, und es ist so gewaltig, dass es alles andere zum Schwiegen bringt.

Wie realistisch so etwas ist, sollte hier nicht die Frage sein. Der Autor hat sich das Ziel gesetzt, uns eine romantische Liebesgeschichte in schöner Landschaft zu präsentieren, und dies ist ihm zweifellos gelungen. Der Leser darf daran nicht allzu zynisch herangehen oder sich davon deprimieren lassen, nach dem Motto “So etwas gibt es ja doch nur im Roman…” – ja, vielleicht, aber das haben schon andere geglaubt und sind dann durch einen verzauberten Augenblick eines besseren belehrt worden. Und diese Menschen werden bestätigen, dass es kein Kitsch ist, wenn es einem selber passiert. “Die große Liebe” ist jedenfalls weitgehend frei davon, so frei, wie er sein kann, wenn sich die Handlung in Italien abspielt, das für viele ja der Sehnsuchtsort an sich ist. Die Liebenden geben sich ausgiebig den kulinarischen Genüssen und dem Rotwein hin, noch bevor sie sich einander hingeben, in einer alten Umkleidekabine am Meer – wo sonst. Wobei von Anfang an klar ist, dass dies viel mehr als eine rein körperliche Angelegenheit ist, hier treffen sich zwei Seelenverwandte, die die Welt mit den gleichen Augen betrachten und ihr eigenes Glück kaum fassen können. Dies in Worte zu fassen, ist viel schwerer als es scheinen mag, doch hier ist es gelungen.

Vielleicht eignet sich das Buch am besten für den Urlaub, wenn man fern des Alltags und offen für die üppig-sinnlichen Beschreibungen des südlichen Landes ist, und die Gedanken schwärmerisch schweifen lassen kann, hin zur eigenen Jugend, als man noch an die große Liebe glaubte … oder zu dem Moment, als man begriff, dass man sie gefunden hat. So etwas soll es geben. Hanns-Josef Ortheil erinnert uns unaufdringlich, doch unvergesslich schön daran.



2016

$
0
0

Januar 2016

Lutz Seiler: Kruso

George Eliot: Daniel Deronda

Kevin Howlett: The Beatles: The BBC Archives 1962-1970

 ———————————–

Februar 2016

Henry Williamson: Tarka the Otter

Peter Ackroyd: The Clerkenwell Tales

Peter Ackroyd: The Lambs of London

Neil MacGregor: A History of the World in 100 Objects

———————————-

 


August 2014: Bill Bryson – At Home

$
0
0

Bücher, die mich unterhalten und bei denen ich gleichzeitig etwas lerne, also interessante und gut geschriebene Sachbücher, sind mir immer hochwillkommen. Und kaum einem gelingt dies so gut wie dem Amerikaner Bill Bryson, der seit den 70er Jahren in England lebt und über seine neue Heimat das sehr erfolgreiche “Notes From A Small Island” geschrieben hat, eine sehr unterhaltsame Reise durch das Inselreich in den 90ern (mittlerweile ist ein Folgeband erschienen, “The Road to Little Dribbling”). Außerdem unternahm er den sehr kühnen Versuch, “A Short History of Nearly Everything” zu verfassen, inwieweit er dabei “fast alles” berücksichtigt hat, kann ich nicht sagen, da ich es nicht gelesen habe – Bücher über naturwissenschaftliche Themen, und seien sie noch so allgemein verständlich geschrieben, ignoriere ich generell (gleiches gilt für Stephen Hawkings Werke, ich würde sicher eine Menge daraus lernen, aber es interessiert mich einfach nicht und so gebe ich mich mit meiner Ignoranz zu diesen Themen zufrieden). Okay, vielleicht mache ich bei Bryson irgendwann eine Ausnahme, denn er versteht es wirklich meisterhaft, im Plauderton viele interessante Anekdoten und Fakten zu allem Möglichen zusammen zu tragen, ohne den Leser damit zu überfordern oder zu ermüden. Vielmehr entsteht daraus ein faszinierendes, rundes Ganzes.

img_3016

Quelle: readmeblogsite.net

Ausgangspunkt von “At Home” (untertitelt mit ” A Short History of Private Life” und somit quasi eine Fortsetzung von “Nearly Everything”, das die Anfänge des Lebens und der Menschheit beschreibt – nun erfahren wir, was sie aus ihrem Dasein gemacht hat), ist Brysons eigenes Haus in Norfolk, das er dem Leser wie folgt präsentiert:

As the Crystal Palace rose in London, one hundred and ten miles to the north-east, beside an ancient country church, under  the  spreading skies of Norfolk,  a rather  more modest  edifice went up in 1851  in a village near the market town of Wymondham: a parsonage of a vague and rambling nature, beneath an irregular rooftop of barge-boarded gables and jaunty chimney stacks in a cautiously Gothic  style – ‘a good-sized house,  and  comfortable enough in a steady, ugly, respectable way’, as Margaret Oliphant, a hugely popular and prolific Victorian novelist, described the breed in her novel The Curate in Charge.

In dem ehemaligen Pfarrhaus mit seinem für seine Entstehungszeit im 19. Jahrhundert typischen Grundriss und Räumlichkeiten macht er eine Art Rundgang vom Keller bis zum Dachboden und weiß über jedes Zimmer etwas zu erzählen, das damit in Verbindung steht. So widmet er sich beim Thema Schlafzimmer der Geschichte des Bettes, das für die längste Zeit kein sonderlich privater Ort war: Kinder schliefen im Elternbett, Dienstboten am Fußende des Betts ihrer Herrschaft und in Herbergen mussten sich Reisende das Bett in der Regel mit ihren Zimmergenossen teilen. Im Esszimmer lernen wir, wie sich die Essgewohnheiten und -zeiten im Laufe der Jahrhunderte änderte, wobei er sich dabei (wie allgemein in seinen Büchern) auf die britische und amerikanische Kultur konzentriert, wo das “Dinner” früher schon zur Mittagszeit eingenommen wurde (so heißt  das klassische Mittagessen am 1. Weihnachtsfeiertag noch heute “Christmas Dinner”, auch wenn “dinner” ansonsten meist das Abendessen bezeichnet), bis es sich immer weiter nach hinten verschob, sodass man für die Zeit davor ein Mittagessen einführte sowie den berühmten “Afternoon Tea”. Aufgrund veränderter Lebensgewohnheiten wie Bälle und Theaterbesuchen wurde dann mitunter noch ein zweites, spätes Abendessen, das “Supper” nötig. Außerdem verdeutlicht Bryson beispielsweise die architektonische Revolution, die die Einführung des Schornsteins darstellte: Zuvor hatte man quasi ein Lagerfeuer im Haus, mit allen damit verbundenen Gefahren und der Rauchentwicklung. Gefährlich waren auch das Kinderkriegen und Kinderleben in der Vergangenheit: Hatte man das Glück, die eigene Geburt zu überleben und nicht an einer Krankheit zu sterben, wurde man als Kleinkind vielleicht von einem (auch in der Stadt) umherlaufenden Schwein gebissen oder fiel ins offene Feuer (siehe oben).

So entsteht eine Geschichte des menschlichen Alltags von der Geburt bis zum Tod, ein Alltag, der sich in der Spülküche oder im Arbeitszimmer abspielen konnte, auf jeden Fall aber immer irgendeine Art von Klo beinhaltete, wenn sich dieses auch lange nicht in einem eigenen Raum befand, geschweige denn mit Spülung ausgestatt war. Bryson erinnert uns daran, wie wenig selbstverständlich die für uns heute normalsten Dinge sind:

We forget just how painfully dim the world was before electricity. A candle, a good candle, provides barely a hundredth of the illumination of a single 100 watt lightbulb. Open your refrigerator door, and you summon forth more light than the total amount enjoyed by most households in the 18th century. The world at night, for much of history, was a very dark place indeed.

Natürlich ist es unmöglich, all die Begebenheiten, Geschichten über Erfindungen und Entdeckungen, Namen und Orte, die Bill Bryson in “At Home” versammelt, im Gedächtnis zu behalten, einiges bleibt aber doch stecken und lässt sich prima in dem ein oder anderen Gespräch anmerken oder anderweitig in Zukunft verwenden. Es gibt viele Aha-Momente, wie z. B. bei der Erklärung, warum wir uns ausgerechnet Salz und Pfeffer auf den Tisch stellen, warum unsere Gabeln meist vier Zinken haben oder dass Treppen zu den häufigsten Todesursachen gehören – nachdem ich das gelesen hatte, ging ich für den Rest des Tages sehr viel vorsichtiger die Stufen in unserem Haus hoch und runter.

Als Übersetzer möchte ich noch anmerken, dass es mit Sicherheit nicht einfach gewesen sein kann, dieses wie erwähnt sehr auf den britischen/amerikanischen Kulturkreis ausgerichtete Buch ins Deutsche zu übertragen. Da ich es nicht auf Deutsch gelesen habe, kann ich nichts über die Qualität sagen, es ist jedoch wahrscheinlich, dass Sigrid Ruschmeier sehr viel Recherchearbeit leisten musste und ziehe schon deshalb den Hut vor ihr. Es gibt auch ein von Rufus Beck eingelesenes Audiobuch (Hörprobe hier). Ob vor- oder selbst gelesen, Brysons Sammelsurium ist auf jeden Fall ein lehrreiches Vergnügen, bei dem es einmal quer durch den Gemüsegarten, oder besser gesagt, durch das davorstehende Wohnhaus geht, durch alle Zeiten und Länder, während man sich dabei im besten Falle “at home” befindet.


George Eliot – Daniel Deronda

$
0
0

Mit ihrem letzten Roman “Daniel Deronda” ging George Eliot, die in ihrem Leben und Werk schon einige Grenzen der viktorianischen Sittsamkeit durchbrochen hatte, noch einmal ein richtiges Wagnis ein: Sie stellte einen jungen Mann in den Mittelpunkt, der nicht nur zwischen zwei Frauen steht, von denen die eine praktizierende Jüdin ist, er zeigt auch im Laufe der Geschichte ein zunehmendes Interesse und eine wachsende Faszination für das Judentum. Nie zuvor wurden Angehörige dieser Religion so positiv, ja sogar als Vorbild für die englische Gesellschaft in einem Roman dargestellt, was bis heute zu Kontroversen führt. So verwundert der Vorschlag eines Kritikers nicht, man solle doch alle Passagen, die Daniel betreffen, herausnehmen und sich auf den anderen Handlungsstrang konzentrieren, ja das Buch sogar nach seiner heimlichen Heldin in “Gwendolen Harlech” umbenennen. Diese sehen wir zum ersten Mal durch seine Augen an einem für Damen äußerst unschicklichen Ort: An einem Roulette-Tisch.

Was she beautiful or not beautiful? and what was the secret of form or expression which gave the dynamic quality to her glance? Was the good or the evil genius dominant in those beams? Probably the evil; else why was the effect that of unrest rather than of undisturbed charm? Why was the wish to look again felt as coercion and not as a longing in which the whole being consents?

She who raised these questions in Daniel Deronda’s mind was occupied in gambling: not in the open air under a southern sky, tossing coppers on a ruined wall, with rags about her limbs; but in one of those splendid resorts which the enlightenment of ages has prepared for the same species of pleasure at a heavy cost of gilt mouldings, dark-toned color and chubby nudities, all correspondingly heavy—forming a suitable condenser for human breath belonging, in great part, to the highest fashion, and not easily procurable to be breathed in elsewhere in the like proportion, at least by persons of little fashion.

Nicht nur aufgrund ihrer Leidenschaft fürs Spiel ist Miss Harlech in der Tat höchst bemerkenswert: schön und gewandt wie eine griechische Göttin, kapriziös und stolz, mit einem unbedingten Freiheitswillen, will sie sich von keinem Mann an die Kette legen lassen und begreift die Ehe nur als Möglichkeit, endlich selbstbestimmt zu leben, finanziell unabhängig und ohne die lästigen Einschränkungen, denen eine unverheiratete Frau von Stand unterliegt. Aus Liebe macht sie sich nichts, wie zuerst ihr Cousin feststellen muss, der gar nicht anders kann, als sich heftig in diese reizende Amazone zu verlieben. Gwendolen wiederum fühlt sich auf den ersten Blick angezogen von Deronda, selbst wenn er sie zunächst heftig in ihrem Stolz verletzt, als er ein von ihr verpfändetes Armband einlöst und ihr zukommen lässt. Zu dem Zeitpunkt, als er (und der Leser) sie in einem deutschen Kurort kennen lernt, ist sie auf der Flucht vor einem anderen Verehrer: Mr Grandcourt, einem reichen Erben, der erst kürzlich ein Anwesen in der Nähe von Gwendolens Familie bezogen hat und ihr nach kurzer Zeit einen Antrag macht, den sie jedoch ausschlägt, da sie ein dunkles Geheimnis über seine Vergangenheit erfahren hat. Doch muss sie ihre Position neu überdenken, als sie während ihrer Europareise erfährt, dass die Familie aufgrund von Fehlinvestitionen ihr gesamtes Vermögen verloren hat: Plötzlich erscheint ihr Grandcourts Angebot als einzige Alternative dazu, ihre Mutter und vier Schwestern als Gouvernante durchzubringen und in ein winziges Cottage zu ziehen – kurz, als Möglichkeit ihren Lebensstandard zu retten. Auch glaubt sie, ihren Zukünftigen so wie alle anderen Männer um den Finger wickeln zu können, eigenwillig und selbstsicher wie sie nun mal ist. Doch muss die als verwöhnte Prinzessin aufgewachsene Gwendolen bald erkennen, dass sich ihr Gatte zum Ziel gesetzt hat, ihren Willen zu brechen und ihr mit allen Mitteln zu zeigen, wer der Herr im Hause ist …

374414

Quelle: goodreads.com

In dieser Situation erscheint ihr der junge Daniel Deronda wie ein Fels in der Brandung, bei dem sie unter den argwöhnischen Augen ihres Ehemanns Trost und Rat sucht. Und halb unbewusst auch mehr. Dabei ist Daniel längst nicht so gefestigt, wie er scheint: als Mündel seines “Onkels” Sir Hugo Mallinger aufgewachsen, nimmt er an, dass er eigentlich dessen unehelicher Sohn sei und sucht die ganze Zeit nach seinen Wurzeln (seine Mutter hat er nie gekannt). Er lässt sich mehr oder weniger treiben, aufgrund des wohlhabenden Onkels ohne den Druck, eine Profession auszuüben. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er an einem Sommerabend auf der Themse ein junges jüdisches Mädchen vor dem Ertrinken rettet – sie wollte auf diese Weise Selbstmord begehen. Daniel bringt die mittel- und heimatlose Mirah Lapidoth bei der Familie eines Freundes unter und erfährt bald, dass sie nach London gekommen ist, um ihre Mutter zu finden, von der ihr Vater sie als Kind mehr oder weniger “entführt” hat, um seiner Spiel- und Freiheitssucht nachzugehen. Mirah trat als Sängerin auf, doch ohne Leidenschaft für die halbseidene Bühnenwelt, in der sie früher oder später ihre Unschuld verlieren würde. Daniel wird von dem Gedanken besessen, ihre Mutter und ihren Bruder ausfindig zu machen und lernt durch einen Zufall den Schriftgelehrten Mordecai kennen, der in ihm einen Menschen zu erkennen glaubt, der seine Vision eines geeinten jüdischen Volkes im Land seiner Vorfahren weitertragen wird. Die Zeit drängt, denn Mordecai ist todkrank. Doch Daniel zögert, ist hin- und hergerissen zwischen seinem Respekt für den Gelehrten und dem damit einhergehenden Interesse am Judentum, seiner wachsenden Zuneigung zu Mirah, der Suche nach seiner Herkunft und schließlich den Erwartungen seines Umfelds, dass er den typischen Weg eines Gentlemans (z. B. als Politiker) einschlagen wird. Bis ihm sein Onkel einen Brief übermittelt, der alles auf den Kopf stellt …

Das Buch fesselte mich bis zur letzten Seite, mit großer Spannung verfolgte ich den Lebens- und Leidensweg der einzelnen Charaktere und fieberte mit, ob das zum Beispiel etwas wird mit Daniel und Mirah. Einige Wendungen lassen sich voraus ahnen, während andere ganz unvorhergesehen kommen. Die Autorin schafft es, dass man Anteil an den fiktiven Personen nimmt, selbst wenn sie einem am Anfang so unsympathisch sind wie das bei Gwendolen der Fall sein könnte. Natürlich wünscht man ihr, dass sie von ihrem hohen Ross herunterkommt, doch mit ihrem äußerst schmerzhaften Fall leidet man dennoch mit. Einiges hätte noch radikaler sein dürfen – muss Mirah dann partout auf die Heirat mit einem Juden beharren? Ein anderes Paar in der Geschichte (Bekannte von Deronda und Gwendolen) wagen eine solche konfessionsübergreifende Verbindung, wobei die Braut sogar eine mögliche Enterbung riskiert. Die jüdischen Elemente, Einblicke in Rituale, in Dialoge eingeflochtene Erörterungen über die Geschichte der Juden und ihre mögliche Zukunft, mögen mitunter überflüssig wirken, ablenkend vom eigentlichen Geschehen – hier merkt man, dass Eliot ein Anliegen mit dem Roman hatte, das sie “an den Leser bringen” wollte. Diese Seiten werden von einigen Leser vielleicht nur überflogen oder ganz übersprungen. In der BBC-Verfilmung von 2002 wurden sie jedenfalls vernachlässigt, es erfolgte eine Verlagerung auf die romantischen Aspekte der Geschichte. Dabei lernen wir im Roman auch den ganz normalen Antisemitismus im 19. Jahrhundert kennen, als Juden landläufig als ungewaschene Bohemiens, schurkische Geschäftsmänner oder jedenfalls als exotische Heiden galten, mit denen der ehrenhafte Christenmensch nichts zu tun haben wollte.

But when Rex was present, the girls, according to instructions, never started this fascinating topic, and to-day there had only been animated descriptions of the Meyricks and their extraordinary Jewish friends, which caused some astonished questioning from minds to which the idea of live Jews, out of a book, suggested a difference deep enough to be almost zoological, as of a strange race in Pliny’s Natural History that might sleep under the shade of its own ears. Bertha could not imagine what Jews believed now; and she had a dim idea that they rejected the Old Testament since it proved the New; Miss Merry thought that Mirah and her brother could “never have been properly argued with,” and the amiable Alice did not mind what the Jews believed, she was sure she “couldn’t bear them.” Mrs. Davilow corrected her by saying that the great Jewish families who were in society were quite what they ought to be both in London and Paris, but admitted that the commoner unconverted Jews were objectionable; and Isabel asked whether Mirah talked just as they did, or whether you might be with her and not find out that she was a Jewess.

In einer Zeit, in der Vorurteile und Angst vor Fremden mehr denn je vorherrschen, tut man gut daran, dass dies kein neues Phänomen ist, dass jahrhundertelang Juden damit zu kämpfen hatten (und natürlich weiterhin haben, nur dass wir heute geschichtsbedingt sensibler für Antisemitismus sind). Marginalisiert, dämonisiert und oft mit einem Gefühl der Heimatlosigkeit, sehnten sich nach dem Gelobten Land, das sie ca. 70 Jahre nach Erscheinen des Buches endlich einnehmen konnten, ungeachtet der Tatsache, dass es derweil von einem anderen Volk besiedelt worden war. Doch dies ist ein ganz anderes Problem (und findet im Roman mit seiner Verklärung des frühen Zionismus keine Erwähnung).

daniel-deronda

Quelle: http://www.audienceseverywhere.net

Grandcourt, Gwendolen und Daniel in der BBC-Miniserie von 2002

Vielleicht hat der anfangs erwähnte Kritiker insofern recht, als dass der Roman zuweilen wirklich wie zwei Werke erscheint, jedes mit einem Charakter, der seinen Platz in der Welt sucht, der eine eher auf spirituelle Weise, der andere eher im Sinne von Reichtum und Ansehen. Beide haben nur wenige gemeinsame Szenen, auch wenn diese dann von umso größerer Intensität sind. Doch fand ich nicht, dass der eine Handlungsstrang dem anderen überlegen wäre, eher vermisst man die eine Hauptfigur, wenn sich die Autorin der anderen zuwendet. In ihrem letzten Werk hat sich George Eliot selbst übertroffen und einen Klassiker geschaffen, der heute oft zugunsten von “Middlemarch” übersehen wird und den man, einmal entdeckt, fast schon überrascht angesichts seiner Qualität und Alterslosigkeit liest.


Charlotte Link – Schattenspiel

$
0
0

Dieses Buch fand ich in bei meinen Großeltern, wahrscheinlich hatte mein Großvater es irgendwo gewonnen, denn sie sind beide keine Leser und würden sich niemals einen Roman kaufen. Für mich war es eines der ersten “Erwachsenenbücher”, das ich las, und das mehrmals, denn die Geschichte und Figuren sind mir noch immer deutlich im Gedächtnis, auch wenn die Lektüre nun schon viele Jahre lang her ist.

charlotte-linkschattenspiel

Quelle: booklooker.de

Charlotte Link (nicht zu verwechseln mit der Regisseurin Caroline Link, die für “Nirgendwo in Afrika” einen Oscar erhielt) gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren unserer Zeit. Außer “Schattenspiel” las ich von ihr allerdings nur “Das Echo der Schuld”, doch scheint sie hauptsächlich Psychothriller zu schreiben, also nicht unbedingt mein bevorzugtes Genre. Doch in solchen Kategorien dachte ich noch nicht, als ich “Schattenspiel” las, es war dick und spannend und das reichte mir.

So verfolgte ich den Fall um den Tod des reichen Industriellen David Bellino in seinem New Yorker Haus, der, just als er nach Jahren zum ersten Mal wieder mit vier alten Freunden aus Internatszeiten zusammentrifft, ermordet wird. Wie sich herausstellt, spielte der verwöhnte und egoistische David, der von Jugend an mit seinem bevorstehenden Erbe geprahlt hat, im Leben eines jeden von ihnen eine entscheidende Rolle, und keine positive: Die verhuschte Mary, deren strengkatholischer Vater sie auch schon mal im Winter auf den Balkon aussperrt, fällt bei ihrem ersten Diskobesuch einem Schürzenjäger in die Hände, weil David sich bei einer Razzia aus dem Staub macht. Prompt wird sie schwanger und von ihrem Vater mehr oder weniger zwangsverheiratet, mit einem äußerst unangenehmen Kerl. Die lesbische Natalie wird während eines Urlaubs mit David Opfer eines nächtlichen Überfalls auf einen Gasthof, in dessen Verlauf sie auch vergewaltigt wird – während David sich aus dem Haus retten kann, natürlich ohne sie mitzunehmen. In Folge davon wird sie tablettenabhängig. Steven landet im Gefängnis, weil er für seinen in der IRA kämpfenden Bruder einen Meineid leistet, den David platzen lässt. Und Gina schließlich wird kurz vor der Hochzeit mit ihrem Traummann von David als Lesbe denunziert (er sah sie einmal in einer verfänglichen Situation mit Natalie), was den Verlobten nicht nur einen Rückzieher machen lässt, sondern indirekt auch dazu führt, dass er in ein Flugzeug steigt, das tragischerweise abstürzt. Als wäre dies nicht genug, ist selbst Davids Geliebte Laura, die er quasi aus der Gosse geholt hat, ihm nicht wohlgesonnen.

Mehr und mehr gelangte er inzwischen zu der Ansicht, dass Andreas recht gehabt hatte. Aber damals war er überzeugt gewesen, dass Laura ihn liebte. Es gefiel ihm, wie sie lachte, redete, gestikulierte, wie sie mit geradezu leidenschaftlichem Gesichtsausdruck Champagner trank, wie sie durch ein Zimmer ging oder sich zum Fenster hinauslehnte und Schneeflocken auf ihrem Gesicht zerschmelzen ließ. Er mochte es auch, wenn der Ausdruck ihrer Augen plötzlich von Fröhlichkeit in Melancholie wechselte und eine wehmütige Nachdenklichkeit auf ihren Zügen erschien. Nie konnte sie das kleine, blasse, hungrige Mädchen aus der Bronx verleugnen, das sie einmal gewesen war, auch dann nicht, wenn sie ein Kostüm von Ungaro oder einen Pelz von Fendi trug. In ihrem Gedächtnis existierten Kälte und Armut, Angst und hundertfach erlittene Gewalt. Manchmal schmiegte sie sich an ihn, dann kam es ihm vor, als sei sie ein kleines Tier, das sich im Fell seiner Mutter verkriecht. Den Kopf an seiner Brust vergraben, flüsterte sie: “Ich will nie wieder arm sein, David. Nie wieder. Ich habe solche Angst, dass ich einesMorgens aufwache, und ich bin wieder in dem verfallenen Haus in der Bronx, mein besoffener Vater schnarcht nebenan, und Mutter ist nicht heimgekommen, ich laufe wieder durch die Straßen und suche nach ihr…”

Es gibt also mehr als genug Tatverdächtige. Außerdem war sich David sehr gut darüber im Klaren, dass sie alle einen Grund haben, mit ihm abzurechnen – schließlich hat er sie zu dieser ganz besondere Silvesterparty eingeladen, um herauszufinden, wer ihm seit Wochen Morddrohungen schickt. Die gegenseitigen Verdächtigungen sind groß, doch nur einer kann der Täter sein …

Aus heutiger Sicht mögen die Schicksale der Hauptfiguren etwas arg konstruiert und weit hergeholt erscheinen, doch fiel mir das nie weiter auf. Die jeweiligen Geschehnisse werden in Rückblenden erzählt und man kann sich sehr gut in die einzelnen Personen hineinversetzen. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern man jemand anderen für seine geplatzten Träume verantwortlich machen kann: Natürlich ist es leicht, einen Schuldigen für das eigene Unglück zu finden, vor allem, wenn es sich um solch ein Arschloch wie David handelt. Doch ist es auch leicht, sich in der Opferrolle einzurichten, anstatt eigene Verantwortung zu übernehmen. Genau das erkennen Gina, Natalie, Steven und Mary, während sie ihre bisherigen Leben – gezwungenermaßen, im Laufe der polizeilichen Ermittlungen – noch einmal Revue passieren lassen. Und erhalten somit die Chance, sich von der Vergangenheit zu befreien und noch einmal von vorn anzufangen.

An die Auflösung des Mordfalls kann ich mich nicht mehr erinnern (obwohl ich eine Vermutung hinsichtlich des Täters habe), was darauf hindeutet, dass die Rückblenden, die einen Großteil des Romans ausmachen, interessanter sind als das Krimielement. Die Rezensionen, die ich im Internet fand, waren gemischt, die meisten Leser vergaben eine durchschnittliche Note und waren sich einig, dass er nicht zu den besten von Charlotte Link gehört, was allerdings verzeihlich ist, denn er gehört noch zu ihrem “Frühwerk” (1993 erschienen). Irgendwie haben sich einige Passagen nachdrücklich in mein Gedächtnis gebrannt, z. B. diese hier:

Ich bin “Natalie Quint.” Sie stellte sich immer auf diese Weise vor, nie sagte sie einfach nur ihren Nachnamen oder “Ich heiße Natalie Quint”. Sie sage: “Ich bin Natalie Quint”, was ihrem jeweiligen Gegenüber das Gefühl gab, man müsse sie eigentlich kennen.

 Dieser Trick machte auf mein elfjähriges Ich einigen Eindruck und ich habe ihn wohl einige Male ausprobiert. Es ist seltsam, welche Bedeutung Bücher annehmen, wenn man sie in einem Alter liest, wenn man noch wie ein unbeschriebenes Blatt ist und die eigene Leseliste noch kurz. Heute würde mir “Schattenspiel” vielleicht abgeschmackt und langatmig vorkommen, aber so denke ich daran mit einer wehmütigen Nostalgie zurück, wie an einen alten Bekannten, den man lange nicht mehr gesehen hat. Es hat einen Wert für mich, der weit über den literarischen hinausgeht.


Juni 2003: Nicholas Evans – Der Pferdeflüsterer

$
0
0

Auf dieses Buch wurde ich zuerst durch die Verfilmung von 1998 aufmerksam. Ich erinnere mich noch gut, wie mir eine Schulfreundin in der Pause erzählte, dass ihre Eltern diesen Film im Kino sehen wollten und filminteressiert, wie ich damals schon war, wusste ich, dass Robert Redford mitspielte. Was ich damals nicht wusste, war, dass „Der Pferdeflüsterer“ der Karrierestart für eine gewisse Scarlett Johansson sein sollte, die darin die junge Grace spielt. Als ich den Film später anschaute, kam mir das Gesicht des Mädchens so seltsam bekannt vor … Im Übrigen war ich vom Ende enttäuscht, das ist nämlich etwas anders als im Buch, deutlich weniger romantisch und dramatisch in meinen Augen, wenn auch eventuell etwas realistischer.

remote_mjiwnzi1mda

Quelle: booklooker.de

Das Geschehen nimmt seinen Lauf an einem Wintermorgen, als die 13-jährige Grace, eine begeisterte Reiterin, einen tragischen Unfall hat, bei dem ihr Pferd Pilgrim auf vereister Fläche den Halt verliert, einen Hang hinunterrutscht und mit einem Truck zusammenstößt. Grace und Pilgrim erleiden dabei nicht nur schwere Verletzungen, sie sind auch beide traumatisiert, was sich beim Hengst dahingehend äußert, dass es keinen Menschen mehr an sich heranlässt. Der einzige Ausweg scheint zu sein, ihn einzuschläfern. In ihrer Not wendet sich Graces Mutter Annie an den „Pferdeflüsterer“ Tom Booker, über den sie gelesen, dass er auch scheinbar nicht therapierbare Tiere heilen kann. Doch es nicht nur das Pferd, dass Hilfe benötigt: Grace leidet unter Pilgrims Verhalten, ihren Verletzungen und nicht zuletzt daran, dass ihre beste Freundin Judith, die ebenfalls mit ihrem Pferd in den Unfall verwickelt war, dabei getötet wurde. Währenddessen entfremden sich ihre Eltern immer mehr von einander: Annie ist eine dauergestresste Redakteurin, die nach mehreren Fehlgeburten vergeblich versucht, schwanger zu werden; ihr Mann Robert ist als Anwalt ebenfalls beruflich sehr eingespannt. Die Entscheidung, mit dem Pferd und der widerstrebenden Gracie die lange Fahrt nach Montana zu Booker (der ihre telefonische Anfrage zunächst ablehnt) zu unternehmen, ist eine tiefgreifende und folgenschwere. Das Leben auf der Ranch erweist sich für beide als eine hervorragende Therapie, sodass Mutter und Tochter allmählich wieder zusammenfinden und den Alltag in der Weite Montanas genießen, während es Booker gelingt, dass Pilgrim wieder menschlichen Kontakt zu lässt. Nur nicht Grace als Reiterin, dafür wiegt das Trauma des Unfalls zu schwer … Außerdem fühlt sich Annie unwillkürlich zu dem charismatischen Tom Booker hingezogen und setzt so eine schicksalshafte Verkettung von Ereignissen in Gang …

Seit jenem weit in die Steinzeit zurückliegenden Augenblick, als dem ersten Pferd ein Halfter angelegt wurde, gab es unter den Menschen einige wenige, die in die Seele der Tiere schauen konnten. Oft hielt man sie für Zauberer, vielleicht waren sie das auch. Und da sie Geheimnisvolles leise in die gespitzten Ohren flüsterten, nannte man sie die Pferdeflüsterer.

Nicholas Evans – nicht zu verwechseln mit Nicholas Sparks, der für Schmachtfetzen wie „Das Leuchten der Stille“ oder „Wie ein einziger Tag“ verantwortlich ist –, schaffte mit „Der Pferdeflüsterer“ einen Bestseller, der geschickt die Elemente „Tiere“, „Liebe“ und „Mutter-Tochter-Konflikt“ miteinander kombiniert. Er predigt das Leben im Einklang mit der Natur, was in unserer Zeit gut ankommt und das sicher auch tatsächlich eine Art Heilung bewirken kann, zumindest eine geistige. Der Roman funktioniert erstaunlich gut, er ist fesselnd und stimmungsvoll. Nur das Ende gerät dann ziemlich kitschig bzw. unnötig dramatisch, was mich aber beim Lesen damals nicht wirklich störte, höchstens verstörte, weil es so nicht abzusehen ist. SPOILER: Anders als im Film leben Tom und Annie ihre Gefühle aus, was ich weitaus besser fand als das etwas spröde Ende des Kinostreifens.

Annie dachte –und sie würde es auch später stets denken –, dass sie bei dem, was nun folgte, nie eine Wahl gehabt hatte. Manche Dinge geschehen einfach und können nicht anders geschehen. Sie bebte und würde auch später immer wieder erbeben, wenn sie sich – ohne eine Spur des Bedauerns – an diesen Augenblick zurückerinnerte. Nachdem er getrunken hatte, wandte er sich ihr zu und wollte sich einige Tropfen aus dem Gesicht wischen, als sie ihn berührte und es für ihn tat. Sie spürte die Kälte des Wassers auf ihrem Handrücken und hätte das vielleicht für eine Ablehnung gehalten und ihre Hand zurückgezogen, hätte sie nicht gleich darauf die beruhigende Wärme seiner Haut gefühlt. Und bei dieser Berührung stand die Erde still.

Das ist schon ziemlicher Hardcore-Kitsch, würden Zyniker sagen. Aber „Love is a force of nature“, wie so passend bei „Brokeback Mountain“ heißt (kleine Abschweifung, aber dort geht es ja auch um Cowboys und die Freiheit in der weiten Natur) und ich fand die Liebesgeschichte innerhalb des Handlungsverlaufs einfach schön, auf jeden Fall interessanter als die Heilung von Pilgrim – ich war noch nie ein großer Pferdefan. Ob solche übrigens die „Unterwerfung“ des traumatisierten Hengstes durch den Pferdeflüsterer als geeignete Methode zu seiner Duldung von Grace auf seinem Rücken gutheißen, wage ich zu bezweifeln. Ansonsten gibt es nichts zu meckern an diesem Bestseller, der nun auch schon wieder 20 Jahre alt ist. Seitdem hat man wenig vom Autor gehört, seine nachfolgenden Bücher scheinen nur mäßigen Erfolg gehabt zu haben: Ein One-Hit-Wonder der Literatur, sozusagen.

scarlett-pferde-dw-lifestyle

Quelle: welt.deRobert Redford und die junge Scarlett Johansson im Film


Thomas Mann – Der Zauberberg

$
0
0

Nachdem ich im Januar 2005 „Die Buddenbrooks“ gelesen hatte und es mir überraschend gut gefallen hatte, gedachte ich im darauffolgenden Jahr, mich an Manns zweites großes Werk, „Der Zauberberg“, zu wagen. An die Lektüre erinnere ich mich noch gut, denn sie war längst nicht so einfach wie bei Manns Erstlingswerk: Die seitenlangen philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen zwischen zwei der Romanfiguren nervten mich gewaltig. Meine Lieblingsszene war die, in der Hans Castorp eine Skiwanderung unternimmt und dabei fast ums Leben kommt: Da passiert endlich mal was, er bricht aus der Dämmerwelt des „Zauberbergs“ aus. Keiner kann das Vergehen von ereignisloser Zeit so gut beschreiben wie Thomas Mann, das steht fest. Das gleiche passierte mir immer in meinen Sommerferien: Sechs Wochen rumgegammelt und zack!, waren sie vorbei.

Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen! Eine Erzählung, die ginge: »Die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit« und so immer fort, – das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre, als wollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das – für Musik ausgeben. […]

Aber ich schweife ab. Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Hans Castorp, der an einem Tag Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Bahn von Hamburg nach Davos in die Schweiz fährt, um seinen Vetter Joachim Ziemßen im Sanatorium zu besuchen. In diese „Luftkurorte“ wurden damals an Lungen- und Atemwegserkrankungen (meist Tbc) leidende Personen geschickt, um sich zu erholen oder auch zu sterben. Eine direkte medizinische Behandlung gibt es kaum, stattdessen werden den Patienten Liegekuren verordnet und sie werden regelmäßig geröntgt. Bei einer solchen Röntgenaufnahme, die Castorp eher spaßeshalber machen lässt, wird „eine feuchte Stelle“ in seiner Lunge entdeckt. Er fühlte sich seit Ankunft bereits etwas fiebrig und schließt sich schnell dem gängigen Tagesablauf im Sanatorium mit festen Aufsteh-, Essens- und Ruhezeiten an, sodass seine Einbehaltung als Patient fast als etwas Natürliches erscheint.Ein Fieberthermometer für die tägliche Messung hat er sich auch bereits besorgt.

u1_978-3-10-348128-0

Quelle: fischerverlage.de

Er macht die Bekanntschaft diverser anderer Patienten, darunter die der verführerischen Madame Chauchat, des dicken, einfältigen Mynheer Peeperkorn, der kichernden, nach Apfelsinen duftenden Marusja sowie der zwei Kontrahenten Settembrini und Naptha, der eine humanistischer Freimaurer aus Italien, der andere ein zum Katholizismus konvertierter, nihilistischer Jude aus Galizien. Beide werden so etwas wie Castorps Mentoren und beeindrucken den jungen Mann in ihren Streitgesprächen mit ihrem großem Wissen auf theologischem, philosophischem und politischem Gebiet. Es ist gut, dass diese etliche Seiten füllen, denn an tatsächlichen Ereignissen ist die Handlung, wie schon erwähnt, recht arm. Im Laufe der Zeit sterben einige Patienten, Joachim unternimmt eine Art Fluchtversuch und reist zurück in die Heimat, wo sich sein Leiden aber nur verstärkt und er, zurück auf dem „Zauberberg“, daran stirbt. Hans Castorp selbst verliert den Überblick über die Monate und Jahre, er scheint wie in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein, aus dem er sich weder befreien kann noch will. Die ursprünglich beabsichtigte Laufbahn als Schiffsingenieur scheint der verwaiste Kaufmannssohn fast erleichtert auszusetzen, er kann es sich leisten, nicht zu arbeiten und erhält hier im Sanatorium, umgeben von Krankheit und Tod, die Gelegenheit, sich den geistigen Dingen zuzuwenden, besucht beispielsweise Vorträge zur Psychoanalyse. Versuche seiner Familie, ihn zurückzuholen, etwa durch den Besuch seines Onkels (der fast fluchtartig abreist, als er merkt, wie auch er von dem Zauber ergriffen wird), wehrt er erfolgreich ab.

… wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war; […]: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hätte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, auch er selber nicht, denn er scheute sich wohl, sie sich vorzulegen, hätte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommelt und entschieden nicht recht Bescheid gewußt, – eine Erscheinung, nicht weniger beunruhigend als jene vorübergehende Unfähigkeit, die ihn am ersten Abend seines Hierseins befallen hatte, nämlich Herrn Settembrini sein eigenes Alter anzugeben, ja, eine Verschlimmerung dieses Unvermögens, denn er wusste nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei! Das mag abenteuerlich klingen, ist aber so weit entfernt, unerhört oder unwahrscheinlich zu sein, dass es vielmehr unter bestimmten Bedingungen jederzeit jedem von uns begegnen kann: nichts würde uns, solche Bedingungen vorausgesetzt, vor dem Versinken in tiefste Unwissenheit über den Zeitverlauf und also über unser Alter bewahren. Die Erscheinung ist möglich kraft des Fehlens jedes Zeitorgans in unserem Innern, kraft also unserer absoluten Unfähigkeit, den Ablauf der Zeit von uns aus und ohne äußeren Anhalt auch nur mit annähernder Zuverlässigkeit zu bestimmen.

Ein Höhepunkt des Roman ist (nicht nur in meinen Augen) Castorps Skiwanderung im Gebirge, bei dem ein Schneesturm aufkommt, er sich verirrt und Schutz unter einem Schuppendach suchen muss. Dort schläft er erschöpft ein und beginnt zu träumen, schöne und grausame Szenen entstehen vor seinen Augen als Sinnbild, wie der Tod stets die Überhand über alles Gesittete und Wohlgeformte zu gewinnen sucht. Daraus gewinnt er die zentrale Erkenntnis:

Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwärts auf Zehenspitzen in seiner Nähe. Er trägt die Würdenkrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, – das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim! Die Liebe steht dem Tode entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gütige Gedanken. Auch Form ist nur aus Liebe und Güte: Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats – in stillem Hinblick auf das Blutmahl. Oh, so ist es deutlich geträumt und gut regiert! Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.

Ob er sich daran erinnert, als wir ihm ganz am Ende der Geschichte auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs begegnen – wer weiß. Auf jeden Fall summt er dort, fast schon manisch, „Am Brunnen vor dem Tore“, das er zuvor im Sanatorium immer wieder auf dem Grammophon gespielt hat. Dies ist gegen Ende des Romans (wenn auch nicht von Castorps Aufenthalt: während das erste Jahr ziemlich ausführlich geschildert wird, erscheint der Rest der sieben Jahre sehr gerafft), als allgemein die Stimmung im Berghof verflacht und sich eine große Langeweile breitmacht, gegen die man alle möglichen Ablenkungen sucht – wie eine spiritistische Sitzung, bei der Hans mit seinem toten Vetter Joachim Kontakt aufnimmt –, bis sich die allgemeine Gereiztheit in einem Pistolenduell zwischen Naphta und Settembrini entlädt, bei dem es keinen Sieger gibt. Und dann bricht der Krieg aus, eine überstürzte Abreise beginnt und Hans wird einberufen:

 Er sah sich entzaubert, erlöst, befreit, – nicht aus eigener Kraft, wie er sich mit Beschämung gestehen musste, sondern an die Luft gesetzt von elementaren Außenmächten, denen seine Befreiung sehr nebensächlich mit unterlief.

Wenn wir ihn dann auf den letzten Seiten kämpfend neben seinen Kameraden erleben, in Schlamm und Regen, können wir nur trauern um dieses schreckliche Schicksal – der Autor selbst lässt die Frage um sein Überleben offen, bekennt aber freimütig, nicht wirklich daran zu glauben, schließlich kommen zu viele in diesem sinnlosen Krieg ums Leben.

Thomas Mann hatte 1912 selbst ein Davoser Sanatorium besucht, in dem seine Frau Katia eine Lungenerkrankung auszukurieren versuchte. Seine Eindrücke verarbeitete er in diesem anfangs als Novelle geplanten Roman, an dem er mit Unterbrechungen fast 10 Jahre schrieb und der 1924 erschien. Er ist ein gefundenes Fressen für alle, die Interpretationen und Symbolik lieben oder nach den Vorbildern für die Figuren suchen (Mynheer Peeperkorn soll z. B. Gerhard Hauptmann nachempfunden sein). „Der Zauberberg“ trägt nicht nur einen märchenhaften Namen, die abgeschiedene Welt des Sanatorium mutet bisweilen auch unwirklich wie ein Märchen an, in dem die Menschen in einen tiefen Schlaf fallen, oder wie eine Vorstufe der Unterwelt, voll von Halbtoten. Der stets allgegenwärtige Tod geht Hand in Hand mit Eros (Castorp verliebt sich in Clawdia Chauchat und beginnt eine Affäre mit ihr, sie wiederum bringt später ihren Geliebten Peeperkorn mit) und Hans selbst glaubt, dass Krankheit den Menschen edler und geistig überlegener mache als allzu robuste Gesundheit. Die morbide, dem starken, kräftigen Leben der Gesunden und Tätigen so ferne Atmosphäre übt auf die dafür Empfänglichen jedenfalls einen großen Reiz aus, bis der Donnerschlag des Kriegsbeginns wie eine Art reinigendes Gewitter wirkt, als das er ja auch von den europäischen Staaten geradezu herbeigesehnt wurde. Beides, Krieg und Berghof, sind nach meiner Auffassung nur unterschiedliche Arten einer Vergeudung der Jugend, der eine mäht sie nieder, der andere schläfert sie ein. Letzteres gilt hoffentlich nicht bezüglich der Wirkung des Roman auf den Leser: Vermutlich war ich damals zu jung und ungeduldig, um das Buch mit Verstand zu lesen. Es ist wohl kein Werk, dessen Wert sich auf den ersten Blick erschließt, aber eine Erfahrung, die man nicht missen sollte, und ein Kandidat zum Wieder- und Neulesen im Laufe der Jahre.


September 2015: Thomas Gottschalk – Herbstblond

$
0
0

Obwohl er mittlerweile die Spätphase seiner Karriere erreicht hat, ist Thomas Gottschalk für mich noch immer Deutschlands größte Fernsehpersönlichkeit. Wahrscheinlich ist das auch ein Armutszeugnis für die jüngere Generation von Moderatoren, aber ich konnte mich nie für Pflaume, Pilawa oder Kerner erwärmen. Markus Lanz werde ich nie verzeihen, dass er „Wetten dass“, das TV-Ereignis meiner Kindheit und Jugend schlechthin, zugrunde gerichtet hat. Harald Schmidt hat entnervt aufgegeben und Stefan Raab ist jetzt Privatier. Bleibt vielleicht noch Günther Jauch, der mir aber mitunter zu bissig oder unterkühlt ist, halt ein anderer Typ als Gottschalk, auch wenn ich die Freundschaft zwischen den zwei alten Haudegen rührend finde. Jedenfalls bin ich dankbar für jede Sendung, in der ich meinen blondgelockten Fernsehhelden noch bewundern kann, allzu häufig sind seine Auftritte ja leider nicht mehr (und wenn, dann kommen noch böse Kommentare von Usern, à la „Warum geht er nicht endlich in Rente“ oder „Ich kann sein Gequatsche nicht mehr hören“ – es wird ja niemand zum Einschalten gezwungen!). Natürlich ist da auch viel Nostalgie bei mir im Spiel. Jedenfalls war es keine Frage, ob ich seine Autobiografie „Herbstblond“ lesen würde, sondern nur wann. Ich tat es ca. ein halbes Jahr nach Erscheinen, passenderweise im Herbst.

ahoswqfw

Quelle: randomhouse.de
Das Blond hat nun einen leichten Grauton

Gottschalk legt Wert darauf, zu betonen, dass er das Buch selbst geschrieben hat, und warum auch nicht, schließlich überlegte er einst, Deutschlehrer zu werden und man traut ihm durchaus zu, dass er vernünftige Sätze zu Papier bringen kann. Das ist noch eine Eigenschaft, die ich am ihm mag: Obwohl er nie damit hausiert, hat er eine umfassende humanistische Bildung, ist weltgewandt und hört AC/DC ebenso gern wie Wagner. Auch wenn seine Kritiker es ihm oft nicht glauben wollten, aber der Mann hat Niveau. Leider findet man davon heutzutage zu wenig in der hiesigen TV-Landschaft (spricht die frühvergreiste Twenty-Something).

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten erzählt Gottschalk stringent seine Bio, angefangen bei der Kindheit und Jugend im bayerischen Kulmbach, mit Bruder Christoph, Schwester Raphaela und den aus Schlesien geflüchteten Eltern. Sein Vater Hans ist Rechtsanwalt, er stirbt an Krebs, als Thomas gerade 14 ist. Es ist ein solides Leben in einem für die Zeit typischen, bürgerlichen Umfeld. Thomas erkennt früh seine Begabung fürs Komische und allmählich auch seine Liebe für die Musik. Als er es in den 70ern als Radiomoderator zum Bayerischen Rundfunk schafft, glaubt er, dass es nicht mehr höher ginge. Er hat einen festen Platz in der Tiefgarage des BR und eine treue Hörergemeinschaft, die stetig wächst, denn er ist frech, witzig und weiß, was die jungen Leute hören wollen. Seine Sendungen bei Bayern 3 sind nichts anderes als Kult. Kein Wunder, dass bald das Fernsehen anklopft, wo er zunächst die „Telespiele“ moderiert, seine eigene „Pop-Show“ bekommt und einen großen Erfolg mit „Na sowas!“ hinlegt. Dann wird er gefragt, ob er nicht diese Samstagabendshow von Frank Elstner (den er von Radio Luxemburg kannte und immer bewundert hatte) übernehmen wöllte. Und der Rest ist Geschichte.

Es gibt keine deutsche Fernsehshow, die eine vergleichbare Gästeliste  vorlegen kann. Wenn ich in  Hollywood damit prahle, addiere ich nicht, sondern subtrahiere: „Bis auf die Queen und den Papst war praktisch jeder da.“ „Auch Michael Jackson?“ „Zweimal!“ „Steven Spielberg?“ „Yes!“ „Tom Cruise?“ „Absolutely!“ „Leonardo Di Caprio?“ „Of course!“ Ich selbst habe den Überblick verloren. Manchmal sitzen in Malibu Hollywoodgrößen am Nebentisch und ich frage meine Frau: „Hatte ich den/die schon in der Sendung?“ Sie sagt dann: „Ja, aber geh da jetzt bloß nicht hin!“ Mache ich nicht. Zumindest nicht mehr. Oft genug ist es mir passiert, dass ich auf irgendeinem roten Teppich strahlend auf einen Star zustrebte, der keine Ahnung mehr davon hatte, dass er irgendwann auf dem Sofa neben mir gesessen hatte und sich den Kopf darüber zerbrechen musste, wie viele Mücken Manfred Müller aus Minden mit seinem Mund in zwei Minuten fangen würde.

Bis es nach erfolgreichen Jahren mit „Wetten dass“ allmählich bergab geht und Gottschalk, der schon einige Male ans Aufhören gedacht hatte, nach dem tragischen Unfall von Samuel Koch endgültig die Entscheidung trifft, seinen Hut zu nehmen. Doch leider verläuft der Weg anschließend nicht so glatt weiter, wie er sich das ausgemalt hat, und er muss lernen, dass sich die Zeiten für ihn gewandelt haben:

Ich musste feststellen, dass ich nirgendwo gebraucht wurde – für mich eine neue Erfahrung und keine,die mich besonders begeisterte. Aber wer mag das schon. Wenn ich mich also dafür entschied, das Angebot von RTL anzunehmen, Juror fürs Supertalent zu werden, muss ich mir die Frage gefallen lassen: War es  Torschlusspanik, verletzte Eitelkeit oder eine Möglichkeit, mich neu zu erfinden? Ich rede mir Letzteres ein.

Wir werden sehen, mit welchen neuen Formaten er noch aufwarten wird, verglichen mit seinem früheren Ruhm muss wohl jedes zwangsläufig enttäuschen und mich persönlich schmerzte es sehr, ihn in der „Supertalent“-Jury neben Bohlen sitzen zu sehen. Das passte einfach nicht und glücklicherweise haben das sowohl Sender als aus Moderator bald eingesehen (trotzdem scheint Gottschalk seine neue Heimat bei RTL gefunden zu haben, wo er auch eine große Sause zu seinem 65. veranstaltete).

Im zweiten Teil von „Herbstblond“, dessen Kapitel übrigens alle die Titel bekannter Songs tragen (z. B. „Radio Gaga“ für seine Zeit beim Rundfunk oder „Road to Nowhere“ für die Phase nach „Wetten dass“), widmet sich Gottschalk bestimmten Aspekten seines Lebens, etwa den Vor- und Nachteilen seiner Berühmtheit, seinen Bemühungen, die Familie aus der Öffentlichkeit rauszuhalten – dass er bekennt, seinen Söhnen auch mal eine Ohrfeige verpasst zu haben, ging gleich wieder durch die Presse –, seinem Zweitwohnsitz in Malibu, Reichtum oder dem Älterwerden.

Es ist mir schleierhaft, wie schnell das alles passiert ist. Ich habe den Verlauf meiner Karriere durchaus als Aufstieg empfunden: vom Radion ins Fernsehen, vom Dritten ins Erste, vom Nachmittag in den Hauptabend. Als ich den Gipfel erklommen hatte, verfiel ich dem Irrglauben, nun würde eine lange Gerade kommen. Stattdessen ging es auf der anderen Seite schnell wieder bergab. […] Die einen erklären mir, dass Arbeiten das beste Mittel gegen das Altwerden sei und dass diejenigen, die zu früh damit aufhören, eines vorzeitigen Todes sterben. Aber soll ich irgendwann als Karikatur des Mannes vor einer Kamera stehen, den die Leute mal geliebt haben?

Hier zeigt sich mal launig, mal nachdenklich, anekdotenreich und tiefgründig, wenn er z. B. über seinen katholischen Glauben spricht, sich zum Thema Suizid äußert (zwei enge Freunde von ihm, Gunter Sachs und Udo Reiter, haben ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt – letzterem ist das Buch gewidmet) oder den Menschen im Hintergrund dankt, ohne die seine Karriere nicht möglich gewesen wäre. Diese Kapitel fand ich besonders lesenswert und interessant, weil man eine andere Seite von ihm kennenlernt: der Mensch definiert sich am Ende nicht nur durch seine Biografie, sondern auch durch seine Ansichten und Einstellungen und in diesem Buch findet man beides, ohne dass der biografische Teil unnötig in die Länge gezogen wurde. Das wurde wirklich gut gelöst. Außerdem meint man stets, die Stimme Gottschalks zu hören, denn die Sätze geben seinen Sprechstil wieder, seine lockere Art der Formulierung. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb liest sich das Buch sehr gut. Und obwohl ein Kapitel mit „Dirty Laundry“ überschrieben ist, wäscht er diese nicht in der Öffentlichkeit: Es ist kein Skandal- oder Enthüllungsbuch geworden wie die Autobiografie von Dieter Bohlen (der allerdings sein Fett wegkriegt). Es ist ehrlich, auch selbstkritisch, selbstverständlich unterhaltsam, hält aber stets das Niveau. Meine Erwartungen wurden auf jeden Fall erfüllt und sogar die Kritiker haben sich dieses Mal überwiegend wohlwollend geäußert. Vielleicht findet er noch mal ein Konzept, das für ihn so wie die Faust aufs Auge passte wie „Wetten dass“. Nie werde ich vergessen, wie ich damals mit 5 auf Mamas Sofa zum ersten Mal Paul McCartney sah, der in bunt gestreifter Weste „Hope of Deliverance“ sang (damals moderierte allerdings Wolfgang Lippert, und dessen Verhalten gegenüber dem Ex-Beatle animierte seinen Vorgänger, sich für seine Absetzung auszusprechen). Wie ein Mann versuchte, schneller als sein Hund einen Napf Wasser auszuschlappern und Céline Dion ihm entsetzt dabei zusah. Wie Gottschalk einen frechen Witz riss oder am Ende der Show in ein Fass Senf versenkt wurde und am Montag die ganze Nation darüber sprach. Wie arm ist unsere Fernsehwelt ohne dieses Spektakel geworden.



Oktober 2007: Henry Fielding – Tom Jones

$
0
0

Nein, hier geht es nicht um den Sänger von „Delilah“ und „It’s Not Unusual“, sondern um einen echten Romanklassiker, der zu den ersten englischen Werken dieses Genres zu zählen ist: „The History of Tom Jones, a Foundling“. Als solcher in „50 Klassiker: Romane vor 1900“ vorgestellt, durfte ich ihn mir natürlich nicht entgehen lassen und erinnere mich noch gut daran, wie ich zu Beginn meiner Studienzeit versuchte, ihn trotz erster Herbststürme, die mir immer die dünnen Seiten umblätterten, draußen zu lesen.

Quelle: amazon.de

Im Film „Geliebte Jane“ über eine (vermutlich fiktive) Romanze und Inspirationsquelle der berühmten Jane Austen gibt es eine Szene, in der Jane von ihrem Angebeteten die Lektüre von „Tom Jones“ empfohlen wird, selbst wenn der Inhalt unpassend für Damen erschien, um einmal eine Ahnung von Leidenschaft zu erhalten. Und mit Sicherheit enthält das Buch einige deftige Szenen, wie sie aber für die Zeit nichts Ungewöhnliches waren – man denke nur an Choderlos de Laclos‘ „Gefährliche Liebschaften“. Nicht ihretwegen wird er jedoch noch heute zu den Meisterwerken der englischen Sprache gezählt, sondern weil er in Stil und Form völlig neu und wegweisend war. Ein Schelmenroman, der die Entwicklung des Findelkinds Tom Jones nachzeichnet, einem völlig untypischen „Held“, der eines Abends im Bett eines wohlhabenden Gutherren gefunden wird. Eine mutmaßliche Mutter ist schnell ausfindig gemacht, doch weigert sie sich, den Namen des Vaters preiszugeben und der Junge wird schließlich von Squire Allworthy aufgezogen. Er wächst zusammen mit seinem Cousin, dem Sohn der Schwester von Allworthy, auf. Dieser Master Blifil wird später sein Rivale um die Gunst von Sophie Western, Tochter eines benachbarten Gutsherrn.

Sophie, die einzige Tochter des Herrn Western, war von mittlerer Größe, ja man hätte sie wohl groß nennen können. Ihr Körper war nicht bloß proportioniert, sondern äußerst zart. Ihr schwarzes reiches Haar reichte bis zur Mitte ihres Körpers hinunter, bevor sie es der neuen Mode wegen abschnitt, und es war jetzt so anmutig an ihrem Nacken gelockt, dass wenige glauben mochten, es sei ihr eigenes. Wenn der Neid irgend einen Teil des Gesichtes ausfindig machen konnte, der weniger Lob verdiente, als das übrige, so möchte es vielleicht die Stirn sein, die etwas höher hätte sein können. Ihre Brauen waren voll, glatt und bildeten einen Bogen, wie ihn die Kunst nicht nachzuahmen vermag. Ihre schwarzen Augen besaßen einen Glanz, der durch alle Sanftmut, die darin lag, nicht zu verlöschen war. […] Ihre Wangen hatten eine ovale Form und auf der rechten befand sich ein Grübchen, das bei dem geringsten Lächeln zum Vorschein kam. […] Das war das Äußere Sophiens und dieser schöne Körper barg eine nicht minder schöne Seele, die dem erstern selbst noch größere Reize gab, denn wenn sie lächelte, verbreitete die Sanftmut ihres Charakters die Glorie über ihr Gesicht, welche keine Regelmäßigkeit der Züge zu geben vermag. Da jedoch die ganze Trefflichkeit des Gemütes sich in der nähern Bekanntschaft ergeben wird, in die wir unsere Leser mit diesem reizenden jungen Mädchen bringen wollen, so brauchen wir sie hier nicht zu schildern, ja es wäre dies eine Beleidigung des Verstandes des Lesers und möchte ihm auch das Vergnügen verkürzen, mit dem er sich selbst ein Urteil über ihren Charakter bilden wird.

Da sie aber zunächst unerreichbar scheint, wird Tom durch die verführerische Molly erst mal vom rechten Weg abgebracht und kurze Zeit später durch eine Intrige von Blifil vom Landsitz verbannt. In seiner Verzweiflung will er Seemann werden, doch diverse Abenteuer und Liebeshändel kommen ihm in die Quere und schließlich sind es die Frauen, die ihn nach London locken, ohne zu wissen, dass auch seine Sophie dorthin unterwegs ist, auf der Flucht vor einer Verheiratung mit Blifil. Natürlich gibt es etliche Irrungen und Wirrungen, doch braucht der Leser nie um den glücklichen Ausgang des Ganzen zu fürchten, dass unser Held am Ende sein Glück findet und der Bösewicht seine gerechte Strafe erhält.

Quelle: de.wikipedia.org

Die liebreizende Sophia Western – laut Wikipedia jedoch nicht in der typischen Kleidung von 1749, in der Seilspringen kaum möglich gewesen wäre, sondern in der Mode von 1800, der Entstehungszeit dieser Zeichnung

Ganz im Stil der damaligen Zeit tragen die Kapitel eine Überschrift, die auf den Inhalt schließen lassen und gleichzeitig neugierig darauf machen sollen (z. B. „Ein sonderbares Ereignis, das dem Herrn Allworthy bei seiner Rückkehr nach Hause zustößt. Das anständige Benehmen der Jungfer Deborah Wilkins, nebst einigen passenden Bemerkungen über Bastarde“), und enthalten, ebenfalls zeittypisch, längere Abschweifungen und Betrachtungen des Autors, nicht immer auf die eigentliche Geschichte bezogen.

Ehe wir weiter fortfahren, lieber Leser, halte ich es für geraten, Dich darauf aufmerksam zu machen, dass ich im ganzen Verlaufe dieser Geschichte so oft abzuschweifen gedenke, als ich eine Gelegenheit dazu sehe, was ich besser zu beurteilen weiß, als irgend ein Kritiker.

Das erschwert die Lektüre für den heutigen Leser vielleicht ein wenig, aber wer sich daran wagt, wird rasch feststellen, dass das Buch überraschend unterhaltsam und vergnüglich ist, ähnlich wie das nur zehn Jahre jüngere „Tristram Shandy“. Nicht umsonst kam „Tom Jones“ in einer Liste der 50 besten britischen Romane aller Zeiten auf Platz 22 – nicht schlecht für ein Buch, das nunmehr fast 270 Jahre auf dem Buckel hat. Wie das Zitat oben zeigt, litt Fielding wahrscheinlich nicht unter Minderwertigkeitskomplexen und wenn man sich den Erfolg seiner literarischen Laufbahn ansieht, in der er sich vor allem durch sein humoristisches und satirisches Talent auszeichnete (sein erster Roman war eine Parodie auf Richardsons Lob der Tugend, „Pamela“), gab es dazu auch keinen Grund. Neben dem Schreiben von Romanen und Theaterstücken war er auch journalistisch tätig und führte als Friedensrichter diverse Reformen im Rechtswesen durch, im Bemühen, die steigende Kriminalität zu bekämpfen. Kein Wunder, dass dieser arbeitsreiche Lebensstil seiner Gesundheit nicht zuträglich war, er starb bereits mit 47.

Und nun, lieber Freund, benutze ich diese Gelegenheit (da sich mir keine andere darbieten wird), Dir von Herzen alles Glück zu wünschen. Bin ich Dir ein unterhaltender Gesellschafter gewesen, so kann ich versichern, dass ich dies zu sein wünschte. Manches, was gesagt wurde, hat vielleicht Dich oder Deine Freunde verletzt, aber ich erkläre feierlich, dass ich weder auf Dich noch auf sie zielte. Ich zweifle nicht, dass man Dir unter andern von mir auch gesagt haben wird, Du hättest mit einem sehr leichtfertigen Menschen zu reisen; aber wer dies auch sagte, er tat mir Unrecht. Niemand verachtet und verabscheut die Leichtfertigkeit mehr als ich und Niemand aus bessern Gründen, denn Niemand ist leichtfertiger behandelt worden.


2010

$
0
0

Januar 2010

George Eliot: Middlemarch

Oscar Wilde: The Artist as Critic

John Dominic Crossan: The Historical Jesus

Matthew Lewis: The Monk

Mary Shelley: Frankenstein

Arthur Conan Doyle: The Case-Book of Sherlock Holmes

Hunter Davies: Willam Wordsworth: A Biography

Thomas Hardy: Tess of the D’Urbervilles

Jerome D. Salinger: The Catcher In The Rye

——————————————

Februar 2010

Lewis Carroll: Through The Looking-Glass and What Alice Found There

Mary Elizabeth Braddon: Lady Audley’s Secret

Joris-Karl Huysmans: À rebours

George Meredith: Diana of the Crossways

Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege

Richard Ellman: Oscar Wilde

Oscar Wilde: De Profundis

—————————————

März 2010

André Stern: …und ich war nie in der Schule

Frances de Pontes Peebles: Die Schneiderin von Pernambuco

Shari Goldhagen: Wir können es schaffen, wenn wir rennen

Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Lara Fritzsche: Das Leben ist kein Ponyhof

Caroline Alexander: Der Krieg des Archill

Larry McMurtry: Crazy Horse

Thomas Hardy: Blaue Augen

 ———————————————–

April 2010

Fred Vargas: Der verbotene Ort

Astrid Lindgren: Madita

Stephen Law: Philosophie kompakt und visuell

Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht

Jan von Flocken: Luise – Eine Königin in Preußen

Mathias Schreiber: Das Gold in der Seele

Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse

Jean M. Auel: Ayla und der Clan des Bären

————————————————–

Mai 2010

Federico Andahazi: Lord Byrons Schatten

Martin Suter: Lila, Lila

Erward St. Aubyn: Schlechte Neuigkeiten

Hans-Joachim Torke (Hrsg.): Die russischen Zaren 1547 – 1917

Stefan Bonner/Anne Weiss: Doof it yourself

Isabel Abedi: Whisper

Nick Hornby: Fever Pitch – Ballfieber

Michael Ebert/Timm Klotzek: Planen oder Treiben lassen?

Jean M. Auel: Ayla und das Tal der Pferde

Kate Fox: Watching the English

———————————————-

Juni 2010

Ernst Rebel: Selbstporträts

John M. Bereez: Die Frauen der Präsidenten

Astrid Lindgren: Märchen

Harold Martin: Paul McCartney

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf

Robert Zimmer: Das Philosophenportal

Rebecca Miller: Pippa Lee

Joanne & Gerry Dryansky: Der Zauber von Paris

———————————————

Juli 2010

Lew Tolstoi: Kreutzersonate (Französisch/Russisch)

———————————————-

August 2010

Jean M. Auel: Ayla und die Mammutjäger

Stephen King: Brennen muss Salem

Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns

Roberto Bolaño: 2666

Stieg Larsson: Verdammnis

Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn

John Irving: Das Hotel New Hampshire

Astrid Lindgren: Bracia Lwie Sercie

Kennilworthy Whisp: Quidditch Through The Ages

Victor Hugo: Die lachende Maske

——————————————————

September 2010

Stephen King/Peter Straub: Das schwarze Haus

Edward St. Aubyn: Nette Aussichten

Sir Thomas Malory: König Artus

Gustave Flaubert: Salammbô

Kirsten Boie: Alhambra

David Benioff: Stadt der Diebe

Thomas De Quincey: Confessions of an English Opium-Eater

Håkan Nesser: Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod

——————————————————-

Oktober 2010

Martin Suter: Der Koch

Stieg Larsson: Vergebung

Christoph Hein: Das Wildpferd unterm Kachelofen

  1. Wieprecht/R. Skuppin: Das Lexikon der verschwundenen Dinge

Peter J. Gärtner: Musée d’Orsay

Stephan Puchner: Nebelheim

Waltraud und Matthias Woeller: Es war einmal… Illustrierte Geschichte des Märchens

——————————————————-

November 2010

Jorge Luis Borges: Lotterie in Babylon

Frank Festa (Hrsg.): Necrophobia – Meister der Angst

Rolf Vollmann: Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer 1800 – 1930

Lew Tolstoi: Meistererzählungen

Wolfgang Hebold: 50 Klassiker: Siege und Niederlagen

William Boyd: Armadillo

Jean Paul: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Jean M. Auel: Ayla und das Tal der großen Mutter

——————————————————-

Dezember 2010

Wilhelm Raabe: Stopfkuchen

Bolesław Prus: Der Pharao

Sybil Gräfin Schönfeldt (Hrsg.): Kinderweihnacht

José Maria Eça de Queiroz: Die Reliquie

Peter Høeg: Die Kinder der Elefantenhüter

Ben Schott: Schotts Almanach 2007

Dorothea S. Baltenstein: Vier Tage währt die Nacht

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

  1. Fischer-Fabian: Die deutschen Kaiser

Charles Dickens: Little Dorrit

 


2011

$
0
0

Januar 2011

Henry James: Die Gesandten

Jan Graf Potocki: Die Handschrift von Saragossa

George Sand: Nanon

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Jakob Wassermann: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens

Wilkie Collins: Der Monddiamant

August Strindberg: Das Rote Zimmer

Wolfram von Eschenbach: Parzifal

Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray

—————————————————–

Februar 2011

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

Hellmuth Karasek: Mein Kino: Die 100 schönsten Filme

Joachim Heinzle: Die Nibelungen

Jay Parini: Ein russischer Sommer

Nathaniel Hawthorne: Collected Novels

James Muirden: Shakespeare Well-Versed

Gaston Leroux: Die blutbefleckte Puppe

Jean Paul: Titan. Band I

Roman Bösch: Kleists Geschichte meiner Seele

—————————————————–

März 2011

Michail Lermontow: Ein Held unserer Zeit

Jean M. Auel: Ayla und der Stein des Feuers

Caroline Link: Das Echo der Schuld

Hans Peter Treichler (Hrsg.): Deutsche Balladen

Leonie Swann: Garou

Jean Paul: Titan. Band II

Wolfgang Herrndorf: Tschick

Sheridan Hay: Die Antiquarin

George Eliot: Adam Bede

————————————————-

April 2011

Samuel Beckett. Warten auf Godot

Jörg von Uthmann: Killer, Krimis, Kommissare

Otto A Böhmer (Hrsg.): Denken mit Arthur Schopenhauer

Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen

Honoré de Balzac: Der Landarzt

 ——————————————

Mai 2011

Thomas Hardy: The Return of The Native

John Green: Margos Spuren

Theodor Fontane: Grete Minde

Theodor Fontane: Der Stechlin

Mirko Bonné: Wie wir verschwanden

Theodor Storm: Immensee und andere Novellen

Robert Louis Stevenson: Der Junker von Ballantrae

William Makepeace Thackeray: Pendennis. Band 1

Martin Walser: Ein liebender Mann

 —————————————

Juni 2011

Fred Vargas: Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord

  1. C. Boyle: Das wilde Kind

William Makepeace Thackeray: Pendennis. Band 2

Willi Winkler: Bob Dylan – Ein Leben

Anonymus: Das Buch ohne Namen

Astrid Lindgren: Michel aus Lönneberga

 ————————————

Juli 2011

Thomas Wieczorek: Die verblödete Republik

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne

Alex Boese: Viereckige Bonsai-Katzen

Horst Evers: Für Eile fehlt mir die Zeit

Stephen King: Puls

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen

Olaf Benzinger: Bob Dylan. Die Geschichte seiner Musik

Christoph Ransmayr: Der Schrecken des Eises und der Finsternis

 ——————————————–

August 2011

Ray French: Ab nach unten

Iwan Turgenjew: Rauch

H.P. Lovecraft: Das schleichende Chaos

Oliver Goldsmith: The Vicar Of Wakefield

Rosemary Ashton: George Eliot – A Life

  1. S. Byatt: Possession

Derek Blasberg: Classy!

Natasha Walter: Living Dolls

Stephen King: Die Arena

————————————————–

September 2011

Eugène Sue: Die Geheimnisse von Paris

Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead

Elfriede Vavrik: Nacktbadestrand

Truman Capote: Frühstück bei Tiffany

Diverse: Herbstgedichte

  1. Mohr/N. F. Pötzl/J. Saltzwedel (Hrsg.): Was wir heute wissen müssen

Michael Macrone: Heureka!

 ————————————–

Oktober 2011

Birgit Weidinger (Hrsg.): Warum ist die Leberwurst beleidigt

Charles Dickens: Bleak House

Michael & Steve Baur (Hrsg.): Die Beatles und die Philosophie

Friedhelm Rathjen: Von Get Back zu Let It Be

Emma Donoghue: Raum

Christoph Koch: Ich bin dann mal offline

—————————————–

November 2011

Rabindranath Tagore: Das Heim und die Welt

Michael Kraske: Ich bin dann mal drüben

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

Stephen King: The Shining

Stefano Zuffi: Rembrandt

Netti van Dok (Hrsg.): Weihnachtsbrevier

Peter Kemper: John Lennon – Leben, Werk, Wirkung

Rolf Töpperwien: Von Braunschweig bis Johannesburg

 ——————————————

Dezember 2011

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Chet Raymo: In den Fängen des Falken

Charles Brockden Brown: Three Gothic Novels

Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne

Walter Moers: Ensel & Krete

 


April 2009: Raymond Chandler – Der große Schlaf

$
0
0

„Marlowe, finden Sie Mabel“, flehte Heinz Rudolph Kunze 1986 und war damit sehr erfolgreich, wenn auch fraglich ist, ob sich dieser hartgesottene Bursche mit solch banalen Fällen wie einer durchgebrannten Geliebten befasst hätte. Obwohl, was tut man nicht alles des schnöden Gelds wegen. Die Figur des legendären Detektivs ist für immer untrennbar verbunden mit Humphrey Bogart, der bereits Sam Spade sein Gesicht geliehen und bewiesen hatte, dass er eine ideale Besetzung für diese Art von Rollen war. Berüchtigt ist die Anekdote, dass während der Filmarbeiten zu „The Big Sleep“ (in Deutschland unter dem Titel „Tote schlafen fest“ erschienen) der Regisseur Howard Hawks den Autor fragte, wie eine bestimmte Person in der Handlung eigentlich zu Tode gekommen war und Chandler zugeben musste, dass er es auch nicht wusste …

13524975

Quelle: bookcrossing.com

Aber auf solche Kleinigkeiten kommt es bei seinen Krimis nicht an. Hier zählt allein die Atmosphäre, das Setting – obwohl in LA angesiedelt, scheint es immerzu zu regnen – und vor allem die wunderbar schnoddrige Sprache, mit der Marlowe persönlich den Fall schildert.

Ich trug meinen kobaltblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch, schwarze Sportschuhe und schwarze Wollsocken mit dunkelblauem Muster. Ich war scharf rasiert, sauber und nüchtern – egal nun, ob’s einer merkte. Ich war haarscharf das Bild vom gut gekleideten Privatdetektiv. Ich wurde von vier Millionen Dollar erwartet.

In diesem Aufzug betritt er das Anwesen des totkranken General Sternwood, der ihn (passenderweise in einem Treibhaus, umgeben von Orchideen) beauftragt, einem Erpressungsfall nachzugehen, in den seine Tochter Carmen verwickelt ist. Dieses daumenlutschende Blondchen ist kein Kind von Traurigkeit und so verwundert es nicht, dass ein gewisser Arthur Geiger Geld von ihr fordert, da er offensichtlich kompromittierendes Material von ihr hat. Ihre Schwester Vivian scheint auf den ersten Blick weitaus kühler, doch wird Marlowe bald klar, dass sie ebenfalls etwas zu verbergen hat. Der Fall gestaltet sich kompliziert, als er den offenbar einen Versandhandel für pornografisches Material betreibenden Geiger erschossen auffindet, mit einer nackten und unter Drogen stehenden Carmen neben ihm, von der offenbar Bilder gemacht wurden, die jetzt verschwunden sind – weiterer Stoff für eine Erpressung. Dahinter steckt wohl Joe Brody, der bereits früher versuchte, Geld von Carmen zu erpressen. Doch auch dieser wird das Ende des Romans nicht lebend überstehen. Und welche Rolle spielt eigentlich Rusty Regans, Vivians Ehemann, der angeblich mit der Frau des Casinobetreibers und Gangsterbosses Eddie Mars abgehauen ist?

23519467jy4qbbydyudxkxib0y9aejvd5hsfluc5zr3gzd4l4yh5dzgfraqsztuop7g8e2ngelzdyrhtixcijjumzxq

Quelle: cinema.de

Now wait a minute, you’d better talk to my mother.

Die Handlung ist zu komplex, um sie in mehr als in den wenigen Sätzen oben nachzuerzählen, ohne die Spannung zu zerstören oder durch die Aufzählung zu vieler Personen zu verwirren. Denn auf den etwas mehr als 200 Seiten passiert unheimlich viel, die Ereignisse überschlagen sich und nichts ist so, wie es anfangs scheint. Marlowe, der ehemalige Polizist, desillusioniert und angeekelt von der Korruption in seiner Branche und stets darum bemüht, sauber und anständig durchs Leben zu kommen, stolpert hier nur so über Leichen und schöne Frauen, allesamt „femmes fatales“, wie es in einem klassischen „hardboiled“ Krimi sein muss. So fällt ihm gleich nach Betreten der Sternwood-Villa die nymphomatische Carmen in die Arme:

 Sie war an die 20, klein und schnuckelig, ziseliert, sah aber ganz so aus als ob sie einiges verkraften könnte. Sie trug blassblaue Hosen und sah gut darin aus, sie ging, als ob sie schwebte. Sie hatte hübsches lohfarbenes Haar, das viel kürzer geschnitten war als es die derzeitige Mode mit ihren eingerollten Pagenkopffransen verlangte. Ihre Augen waren schiefergrau und fast völlig ausdruckslos, als sie mich ansahen. Sie kam auf mich zu und lächelte… […] „Sind Sie aber groß“, sagte sie. – „Ich hab’s mir nicht ausgesucht.“ Ihre Augen kullerten. Sie war verdutzt. Sie dachte nach. Ich merkte schon nach dieser kurzen Bekanntschaft, dass sie mit dem Denken ihre liebe Not hatte.

Sehr empfehlenswert ist auch die erwähnte Verfilmung von 1946, mit der unvergleichlichen Chemie zwischen Humphrey Bogart und Lauren Bacall, ebenso wie der Roman zu einem Klassiker seines Genres geworden. Ich schaute mir den Film in einer dunklen Herbstnacht ca. ein halbes Jahr nach Lektüre des Buchs an und fand ihn äußerst faszinierend. Merkwürdigerweise habe ich nie ein anderes Werk von Chandler gelesen, obwohl ich sicher bin, dass sie den Vergleich mit „Der große Schlaf“ nicht zu scheuen brauchen („Der lange Abschied“ von 1953 soll besonders gut sein). Das sollte ich wahrscheinlich dringend mal nachholen, denn seine unvergleichliche Erzählweise und der trockene Humor haben mir damals viel Freude bereitet. Leider konnte ich nur wenige Zitate als Beispiel für seinen Stil online finden, darum sollte man mir einfach glauben, dass man sich diesen Krimileckerbissen nicht entgehen lassen sollte. Leih mir deinen Mantel, Marlowe, nur für eine Nacht.


2012

$
0
0

Januar 2012

Stephen King: Bag of Bones

Bernd Brunner: Mond. Die Geschichte einer Faszination

Gilles Leroy: Alabama Song

Carsten Otte: Goodbye Auto

Adelbert von Chamisso: Werke in einem Band

Selma Lagerlöf: Gösta Berling

Charles Dickens: Martin Chuzzlewitt

 ——————————

Februar 2012

Meir Shalev: Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger

B. Traven: Das Totenschiff

Maren Gottschalk: Jenseits von Bullerbü

Stendhal: Die Kartause von Parma

Bernhard Kellermann: Das Meer

Jean M. Auel: Ayla und das Lied der Höhle

Doris Preißler: Hätten Sie es geschafft?

Thomas Hardy: Far From The Madding Crowd

Andi Rogenhagen: Heldensommer

 ———————————

März 2012

Knut Hamsun: Hunger

Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik

Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage

Walter Kohl: Leben oder gelebt werden

Jens Sparschuh: Im Kasten

Georges Simenon: Le Chien Jaune

 ———————————–

April 2012

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

Kate Mosse: Die achte Karte

Alexander Puschkin: Meisterwerke

Anonymus: Das Buch ohne Gnade

James Fenimore Cooper: Der Spion

Anne Kunze/Katrin Zeug: Ab 18

Melvin Burgess: Doing It

Walter Moers: Die Stadt der Träumenden Bücher

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist

Herman Bang: Das weiße Haus/Das graue Haus

Joel Levy: Das kleine Buch der Verschwörungen

 ————————————

Mai 2012

Erin Morgenstern: Der Nachtzirkus

Georg Hermann: Jettchen Gebert

James Cameron/Randall Frakes: Titanic Story Book

Sjón: Das Gleissen der Nacht

German Neundorfer (Hrsg.): Sommerfreude

Daphne Du Maurier: Das goldene Schloss

Charles & Mary Lamb: Tales from Shakespeare

Peter Härtling: Hölderlin. Ein Roman

—————————————–

Juni 2012

Georg Hermann: Henriette Jacoby

Eric T. Hansen: Das Deutschland-Quiz

Michael Mary: Wo bist du und wenn nicht, wieso?

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Karen Blixen: Out of Africa

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Frances Read: So geht das! Cool sein

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Jens Lehmann/Christoph Siemens: Der Wahnsinn liegt auf dem Platz

 —————————————–

Juli 2012

Tamara Bach: Jetzt ist hier

Charles Dickens: The Pickwick Papers

Robert Shelton: Bob Dylan – No Direction Home

Günther Butkus (Hrsg.): Die Beatles und ich

Jerome K. Jerome: Three Men in a Boat

Merlin Holland: Das Oscar-Wilde-Album

Paul Duncan (Hrsg.): Steve McQueen

Dirk Blothner: Erlebniswelt Kino

 ———————————————–

August 2012

Lew Tolstoi: Хoзяин и Paбoтник

Norbert Schnabel: Wenn Gott ins Kino geht

Choderlos de Laclos: Schlimme Liebschaften

Thomas Kraft (Hrsg.): Beatlemania

Thomas Hardy: The Mayor of Casterbridge

Edward George Bulwer-Lytton: Zanoni

Pío Baroja: Las inquìetudes de Shanti Andía

—————————————–

September 2012

Marc Eliot: Paul Simon – Die Biografie

Michael Gibson: Symbolismus

Umberto Eco: Die Geschichte der Schönheit

Fred Vargas: Debout les morts

Walter Moers: Das Labyrinth der Träumenden Bücher

Alfred de Vigny: Cinq-Mars

Rolf Vollmann: Der Roman-Navigator

Alessandro Manzoni: Die Verlobten

B. Graham/C. van Oosten de Boer: U2 – Das unentbehrliche Handbuch

 ————————————–

Oktober 2012

Sarah Orne Jewett: Das Land der spitzen Tannen

Barry Miles: Many Years From Now

Prosper Merimée: Die Bartholomäusnacht

Nick Hornby: High Fidelity

E. T. A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr

Clarín: Die Präsidentin

 ——————————————–

November 2012

Grazia: Deledda: Marianna Sirca

Henri Alain-Fournier: Der große Meaulnes

Michel de Montaigne: Essais

Bill Harry: The Ultimate Beatles Encyclopedia

Wladimir Kaminer: Liebesgrüße aus Deutschland

Horst Evers: Gefühltes Wissen

——————————————-

Dezember 2012

Julia Grützmacher (Hrsg.): Ein Licht in der Ferne

Sybil Gräfin Schönfeldt: Kinderweihnacht

Annamaria Petrioli Tofani: Die Uffizien, Florenz

Charles Dickens: Hard Times

Lothar Berndorff/Tobias Friedrich: 1000 Tage, die die Welt bewegten

Horst Evers: Mein Leben als Suchmaschine


Viewing all 160 articles
Browse latest View live