Es sollte zwei Jahre dauern, bis ich dieses dreibändige Werk endlich ausgelesen hatte – nicht, weil es so zähflüssig ist, sondern weil ich mir den ersten Band Ende 2013 aus der Bibliothek holte, und als ich den zweiten ausleihen wollte, dieser plötzlich nicht mehr verfügbar war. Wahrscheinlich fielen die Bücher einem Großputz des Archivs zum Opfer, weil ich die einzige Interessentin in vielen Jahren gewesen war… Andererseits war mir das insgeheim gar nicht so unrecht, weil ich, wie schon mehrfach erwähnt, Bücher bevorzugt im Original lese und wenn das nicht möglich ist, dann auf Deutsch, aber nicht in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, wie das bei Englisch nun mal der Fall ist. Gerade bei „Kristin Lavranstochter“ empfahl sich diese Vorgehensweise, denn die Bücher enthalten aufgrund ihres historischen Inhalts und dem norwegischen Schauplatz der Handlung etliche Archaismen und Ausdrücke, die mir nicht gebräuchlich waren (aus der Landwirtschaft, der Flora und Fauna usw.), zumindest nicht auf Englisch.
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Die Ausgabe, die ich gebraucht erwarb, war dem literarischen Wert des Buchs angemessen: Grüner Ledereinband, versehen mit floralem Druck und goldfarbener Schrift, handelte es sich um eine Edition der Deutschen Buch Gesellschaft von 1957. Die Übersetzung stammt von dem Duo Julius Sandmeier/Sophie Angermann, das in den Zwanzigern und Dreißigern viele Werke aus skandinavischen Sprachen ins Deutsche übertrug, darunter viele von Knut Hamsun und eben von Sigrid Undset, beide norwegische Nobelpreisträger für Literatur.
Letztere erhielt den Preis für „Kristin Lavranstochter“, und dabei „vor allem für ihre kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter“; in ihrem Schreiben ist die Forschungsarbeit der Autorin auf diesem Gebiet unverkennbar. Ja, es ist ein historischer Roman und doch so viel mehr als das. Abgesehen von der Seitenstärke hat er mit den historischen Romanen, die sich heutzutage zahlreich in den Bestsellerlisten tummeln, nichts gemein. Der Ton ist viel ernster, andächtiger; es gibt wenig Sex and Crime, dafür viele vor allem innerlich ausgetragenen Kämpfe und unausgesprochene, nur manchmal aufbrechende Konflikte mit Gott und der Welt. Sigrid Undset erzählt auf fast 1000 Seiten die Lebensgeschichte der Kristin, Tochter des Edelmanns Lavrans, im Norwegen des 14. Jahrhunderts – allein schon die Zeit finde ich bemerkenswert, denn wir wissen so wenig über die Menschen im Mittelalter, was sie gedacht und beschäftigt haben, ihre Welt erscheint uns unglaublich weit weg und fremd. Umso lohnenswerter ist dann die Lektüre, bei der man merkt, dass sie damals kaum anders waren als wir heute: Auch sie haben geliebt, gehofft, getrauert, mussten sich ihr Lebensglück erarbeiten und erkämpfen.
Sie hatte Gott wohl nie um etwas anderes gebeten als darum, dass er ihr stets ihren Willen lasse. Und immer hatte sie es so bekommen, wie sie wollte – meistens. Und jetzt saß sie da mit zerknirschtem Herzen – nicht weil sie gegen Gott gesündigt hatte, sondern weil sie unzufrieden damit war, dass sie bis ans Ende ihres Weges ihrem eigenen Willen hatte folgen dürfen. Sie war nicht zu Gott mit ihrem Kranz gekommen und nicht mit ihrer Sünde und ihrem Kummer – nicht, solange die Welt noch einen Tropfen Süßigkeit besaß, um ihn in ihren Becher zu mischen. Jetzt aber kam sie, jetzt, da sie gelernt hatte, dass die Welt wie eine Herberge ist – der, welcher nichts mehr auszugeben hat, wird vor die Tür gesetzt.
Ja, Kristin ist eigensinnig, sie will unbedingt den Mann heiraten, in den sie sich mit 17 verliebt – während sie in einem Osloer Kloster eigentlich ihren durch diverse Vorfälle beschädigten Ruf wiederherstellen und sich auf die bevorstehende Rolle als Ehefrau vorbereiten soll. Dass sie bereits sein Kind unterm Herzen trägt, verschweigt sie lieber, auch wenn die Angst vor der Schande, besonders für ihre Eltern, natürlich immens ist. Und sie bekommt ihn, obwohl er älter als sie ist und bereits uneheliche Kinder mit einer anderen Frau hat, an deren Tod die beiden Jungverliebten nicht gänzlich unschuldig sind. Im Laufe der Zeit wird Kristin Erlend sieben Söhne gebären. Er lohnt es ihr nicht unbedingt mit ehelicher Treue, denn auch Erlend ist eigensinnig und vor allem ein leichtfertiger Mann, der sich in der Laune des Augenblicks zu Taten hinreißen lässt, die er später bitter bereut. Durch seine Liebschaft kommt eine Intrige um die Nachfolge auf dem norwegischen Königsthron ans Licht und Erlend wird als einer der Rädelsführer fast mit dem Tod bestraft, nur der Einspruch seines Schwagers Simon Darre rettet ihm das Leben. Simon war ursprünglich mit Kristin verlobt, bis diese ihn bat, das Verlöbnis aufzulösen, um Erlend heiraten zu können. Er nimmt später ihre jüngere Schwester Ramborg zur Frau, hegt aber weiterhin tiefe Gefühle für die ihm früher Versprochene.
Er taugte schlecht zum Vergessen. Daran trug er keine Schuld. Und er hatte niemals auch nur ein Wort gesagt, das er verschweigen müsste. Er konnte nichts dafür, dass der Teufel ihn mit Erinnerungen und Träumen heimsuchte, die die Bande des Blutes verletzten – freiwillig hatte er sich niemals sündigen Liebesgedanken hingegeben, und in seinen Handlungen war er stets wie ein treuer Bruder gegen sie und die Ihren gewesen. Das wusste er selbst. Schließlich hatte er es zuwege gebracht, mit seinem Schicksal einigermaßen zufrieden zu sein. Solange er wusste, dass er es war, der den beiden dort drüber Dienste erwiesen hatte. – Kristin und jenem Mann, den sie ihm vorgezogen hatte.
Erlend verliert nicht das Leben, wohl aber seinen Besitz und den Hof Husaby, sodass die Familie zurück auf das Gut von Kristins Vater, Jörundhof, ziehen muss. Die Eheleute werden sich zunehmend fremd, auch aufgrund der verlorenen Besitztümer – Kristin wünscht sich, Erlend wäre mehr wie ihr geliebter Vater Lavrans, mittlerweile verstorben; sie sieht den Gatten nicht würdig, Lavrans‘ Hochsitz einzunehmen, nicht nachdem er durch sein leichtfertiges Verhalten das Erbe für seine Söhne verspielt hat.
Wohl hatte sie gar oft unrecht gehabt und hatte auch oft in der Hitze des Streites böse und hässliche Worte zu ihrem Manne gesagt. Am bittersten aber kränkte sie, dass Erlend nie von selbst vergeben und vergessen konnte, nie, ohne dass sie sich demütigte und ihn schön darum bat. […] Das, was sie weiterhin schmerzte, waren all die kleinen Wunden, die er ihr mit seiner unfreundlichen Gleichgültigkeit geschlagen hatte, mit seinem kindischen Mangel an Geduld – ja, sogar mit der übermütigen und gedankenlosen Art seiner Liebe, wenn er zeigte, dass er trotz allem Liebe zu ihr empfand. In allen jenen Jahren, da sie jung und ihr Gemüt weich war, hatte sie fühlen müssen, wie Gesundheit und Seelenkraft nicht verschlugen, wenn sie so rings von einer Schar wehrloser kleiner Kinder umgeben im Leben stand, wollte nicht der Vater, der Gemahl, zeigen, dass er nicht nur die Kraft, sondern auch die Liebe dazu hatte, sie und ihre kleinen Söhne zu schützen. Es war solch eine Qual gewesen, sich selbst körperlich so schwach zu fühlen, einfältig und unerfahren, und dabei es nicht zu wagen, sich auf die Klugheit und Stärke des Mannes zu verlassen – es war, als habe ihr Herz damals Wunden davongetragen, die nie wieder heilen wollten.
Nach einem hitzigen Streit zieht Erlend in den kleinen Bauernhof seiner Tante oben in den Bergen und es kommt zu Gerede über den abwesenden Hausherren, vor allem als Kristin wieder schwanger ist. Dass sich die beiden in der Zwischenzeit wieder versöhnt, aber dennoch weiterhin getrennt leben, kann und will niemand verstehen und sorgt für böses Blut in der Gemeinde, besonders nach dem Tod ihres achten Kindes. Die Angelegenheit gipfelt schließlich in einem tödlichen Unfall und Kristin zieht sich bald darauf in ein Kloster zurück, nachdem sie den Hof an einen ihrer Söhne und dessen Frau übergeben hat.
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Quelle: alchetron.com
Szene aus der Verfilmung von 1995, bei der Liv Ullmann Regie führte – in dem Kristin nordisch blond statt dunkelhaarig ist
Kristins Weg, wie ihn Undset in den drei Büchern „Der Kranz“, „Die Frau“ und „Das Kreuz“ beschreibt, ist ein beschwerlicher, obwohl sicherlich nicht steiniger als der anderer Frauen ihrer Zeit. Ihr Alltag ist von harter Arbeit und der Sorge um Mann und Kinder geprägt. In ihrer Jugend als Schönheit gepriesen, gibt sie wenig darauf und spielt sich nicht als „hohe Herrin“ auf, sondern führt das Leben einer normalen Bäuerin. Außerdem muss sie erkennen, dass selbst eine heiße Leidenschaft im Laufe der Zeit erkalten kann (auch wenn es unter der Asche noch glüht), ihre Trauer darüber geht ebenso zu Herzen wie die stille Liebe ihrer Eltern zueinander, die viel zu jung heiraten und sich erst allmählich, nach einigen Schicksalsschlägen annähern, was in einigen ergreifenden Szenen deutlich wird. Die vielen Aspekte von Liebe kommen im Roman auf eine Weise zur Geltung, wie ich es selten erlebt habe, nicht zuletzt Kristins starke, wenn auch differenzierte Liebe zu ihren Söhne: Dem Erstgeborenen Nikolaus, genannt „Naakve“, fühlt sie sich immer am engsten verbunden, weil sie ihn unehelich empfangen und daher mit tiefsten Schuldgefühlen auf die Welt gebracht hat, sie begab sich im Anschluss sogar auf eine Pilgerreise mit ihm nach Trondheim, um Buße zu tun und für die Geburt des gesunden Jungen zu danken – sie hatte geglaubt, Gott würde ihn ihr zur Strafe nehmen. Der kleine Gaute ist als Kind schwach und kränklich, doch wird er in der Jugend stärker und erbt schließlich den Hof. Die Zwillinge Ivar und Skule sind von früh auf unbändig und eigensinnig; sie verdingen sich später als Söldner, natürlich gemeinsam. Ihre große, wenn auch nicht immer konfliktfreie Zuneigung zu allen ihren Söhnen – die bis auf einen alle das Mannesalter erreichen –, kann wohl von jeder Mutter nachempfunden werden, genauso wie ihr Bedauern darüber, dass sie viel zu rasch groß werden …
Kristin suchte ihren Feuerstahl hervor und zündete einen kurzen Lichtstummel an. Leise trat sie dorthin, wo Ivar und Skule auf der Bank schliefen, beleuchtete sie und fühlte mit dem Handrücken ihre Wange – ein wenig Fieber hatten sie wohl. Still sprach sie ein Ave Maria und machte das Zeichen des Kreuzes über den beiden.[…] Lavrans wimmerte und murmelte im Schlaf. Die Mutter beugte sich über die beiden Jüngsten, die ihre Lagerstätte auf einer kleinen Bank zu Füßen des elterlichen Bettes hatten. Lavrans war heiß und rot und warf sich heftig herum, erwachte jedoch nicht, als sie ihn anrührte. Gaute hatte die milchweißen Arme hinten im Nacken, in dem langen flachsgelben Haar verschränkt – die Betttücher hatte er ganz abgeworfen. Die sonnverbrannte Farbe von Gesicht, Hals und Händen hob sich scharf ab. Die Mutter zog ihm die Decke bis an die Hüften herauf. […] Naakve und Björgulf lagen in dem anderen der beiden Betten, die im Dachraum standen. Bei ihnen verweilte die Mutter am längsten und beleuchtete die beiden schlafenden jungen Männer. Schon beschattete schwarzer Flaum ihre kindlichen roten und weichen Münder. Naakves Fuß sah unter der Decke hervor, schmal, hochristig, tief eingeschwungen an der Sohle – und nicht ganz rein. Und trotzdem dünkte es die Mutter, es sei nicht lange her, seit dieser Männerfuß so klein war, dass er in ihrer geschlossenen Hand ganz verschwand …
Es war ein Genuss, „Kristin Lavranstochter“ zu lesen, schon aufgrund des leicht altmodischen Stils, der Zeit, die sich die Autorin für das Erzählen der Geschichte und der Gestaltung der Charaktere nimmt und der wunderbaren, detailreichen Darstellung der nordischen Landschaft, die sie dem Leser vor dem inneren Auge entstehen lässt. Die Übersetzung von Sandmeier/Angermann war mit Sicherheit keine einfache Arbeit, umso mehr muss man sie preisen als Meisterwerk, das dem Original würdig ist, so wenig ich wegen mangelnder Norwegisch-Kenntnisse auch in der Lage bin, einen Vergleich vorzunehmen. Es ist ein Roman, der einem ans Herz wächst, der mit jedem Lesen an Wert gewinnt und von dem man froh ist, ihn gefunden zu haben. Von dem man allen erzählen will, damit er nicht gänzlich in Vergessenheit gerät. Denn wer kennt heute noch Sigrid Undset, die übrigens auf dem norwegischen 500-Kronen-Schein abgebildet ist? Sie hat noch weitere Romane geschrieben, historische und zeitgenössische, die ich gern lesen wöllte, sollten Zeit und Verfügbarkeit es zulassen.
Unter ihnen lag das Tal, durch das sich das weißgrüne Band des Flusses schlängelte, und an den waldigen Hängen lagen die Höfe wie kleine grüne Flecke. Aber weiter oben wogten braune und von Flechten gelbliche Höhen bis zu den grauen Geröllhalden und nackten, schneegefleckten Höhenrücken hinauf. Die Schatten der Wolken wanderten über das Tal und die Bergweiten hin, aber im Norden war der Blick ins Gebirge hinein ganz klar. Ein Bergleib nach dem anderen hatte sich von dem Nebelgewand befreit und ragte nun blau in die Lauft hinauf. Und Kristins Sehnsucht flog mit den Wolken nach Norden, auf dem langen Weg, den sie vor sich hatte, eilte über das Tal hin, zwischen den beengenden hohen Bergen hindurch, über steile Pfade im Gebirge. Noch einige Tage, dann war sie auf dem Weg hinunter zu den schönen, grünen Tälern des Trondheimischen, folgte den Flussläufen bis zu dem großen Fjord. Erlends schöne Gestalt lebte vor ihrem Blick auf, mit wechselnder Haltung und Miene, rasch, unklar, als sähe sie ihn im laufenden Wasser widergespiegelt.
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Quelle: worldbanknotescoins.com